Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Auf der Eurobike geht es um digitale Trends auf dem Fahrradmarkt
Koppeln, verbinden, vernetzen – der E-Bike-Boom treibt die Digitalisierung des Fahrrads voran – Zu sehen auf der Messe Eurobike
FRIEDRICHSHAFEN - Sicherheit. Das ist es, was die Digitalisierung des Fahrrads vorrangig bringen soll. Damit der Fahrradfahrer nicht vom Lastwagen überrollt wird, weil er im toten Winkel war. Ein Unfallszenario, das „leider viel zu häufig vorkommt“, bedauert Siegfried Neuberger. Der Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) hat große Erwartungen an die Digitalisierung des Fahrrads, die gleichzeitig große Forderungen an jene Fahrzeug-, Komponenten- und Zubehörhersteller sind, deren Interessen Neuberger zu vertreten hat.
Das digitalisierte und vernetzte Fahrrad, wie es sich Neuberger vorstellt, ist ein Fahrzeug, das mit den anderen Verkehrsteilnehmern vernetzt ist, mit anderen Fahrzeugen kommuniziert. Das dem Bordsystem des Lastwagens vor oder neben sich Position, Richtung und Geschwindigkeit mitteilt. Das im schlimmsten Fall eine Notbremsung des Lasters auslöst, um einen folgenschweren Unfall zu vermeiden. Doch „das ist noch Zukunftsmusik“, sagt er, aber „das Thema Sicherheit spielt jetzt eine extrem wichtige Rolle“. Das zeigt auch der Blick in die im Mai vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Übersicht der Kraftrad- und Fahrradunfälle im Straßenverkehr.
Die Anzahl an im Straßenverkehr tödlich verunglückten Fahrradfahrern, zu denen die Nutzer von Pedelecs, Fahrräder mit elektrischer Antriebsunterstützung bis 25 Kilometern pro Stunde, zählen, ist 2016 um 2,6 Prozent angestiegen auf 393. Davon waren 62 auf Pedelecs unterwegs. Die Anzahl der bei Unfällen getöteten Nutzer von Kleinkrafträdern, zu denen E-Bikes, bis 45 Kilometer pro Stunde elektrisch angetriebene Fahrräder, zählen, ist im vergangenen Jahr um 9,7 Prozent angestiegen auf 68. Wie viele davon auf E-Bikes unterwegs waren, geht aus der Erhebung nicht hervor.
Wachstum nur bei E-Bikes
Neuberger selbst spricht von einer rund dreimal höheren Unfallrate bei Nutzern von elektrisch angetriebenen Fahrrädern im Vergleich zu ihren rein durch Muskelkraft bewegten Pendants. Allerdings würden die Elektroräder auch dreimal häufiger benutzt, um außerdem viel weitere Strecken zurückzulegen. Verständlich also, wenn der Interessenvertreter der Fahrradindustrie auf Entwicklungen im Bereich Sicherheit pocht. Sind die E-Bikes und Pedelecs doch der Wachstumsträger der Branche schlechthin – und derzeit auch der einzige. Die allgemeinen Verkaufszahlen gehen seit Jahren zurück, während das Geschäft mit den E-Bikes boomt. Allein im ersten Halbjahr stiegen die Absatzzahlen der Elektroräder um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an, während der Gesamtmarkt im gleichen Zeitraum um 2,2 Prozent schrumpfte.
Den aktuellen Stand der Digitalisierung des Fahrrades zeigt die Zweiradbranche derzeit auf dem Gelände der Messe Friedrichshafen auf der
Fachmesse Eurobike – der, wie die Veranstalter sagen, weltweit wichtigsten Schau ihrer Art. Dort präsentiert beispielsweise der deutsche Technikkonzern Bosch das erste serienreife Antiblockiersystem (ABS) für E-Bikes. Der deutsche Autozulieferer Continental wird nach eigenen Angaben bald ebenfalls ein ABS auf den Markt bringen. Aktuell präsentiert Continental eine stufenlose Vollautomatik für E-Bikes, bei der das Getriebe in den Antrieb integriert ist. So sollen gleichzeitig Sicherheit und Komfort verbessert werden – ganz im Sinne Neubergers. Die Vollautomatik funktioniert mit
einer Spannung von 48 Volt – genau wie die entsprechende Entwicklung von ZF. Der Friedrichshafener Automobilzulieferer ist mit seinem Antriebssystem samt ABS zum ersten Mal auf der Eurobike vertreten. 48 Volt sind Autostandard, nicht E-Bike-Standard. So ließen sich die Technologien leichter transferieren, bestätigt Jörg Malcherek, Verantwortlicher für Bicycle Systems bei Continental. Bosch wiederum hat am Donnerstag eine Achse für Elektroautos angekündigt, bei der Getriebe und Antrieb kombiniert sind. Daraus lassen sich mehrere Trends ableiten: Mit der zunehmenden Digitalisierung
drängen Hersteller, darunter frische Start-Ups oder bislang branchenfremde Unternehmen, auf den Markt mit elektrifizierten Fahrrädern, wie eben aus der Automobilbranche. Hersteller setzen zudem oft neue Standards oder haben eigene Spezifikationen als Anforderungen für Zulieferer. Hersteller integrieren mehr und mehr Systeme in ihr Produkt, um auch mehr an der Wertschöpfungskette beteiligt zu sein.
Eine Entwicklung, die beispielsweise den Hersteller von Fahrradcomputern Ciclosport direkt betrifft. Seit den frühen 1980er-Jahren fertigt die bayrische Firma digitale Helfer für Fahrradfahrer. Heute haben „die E-Bikes das schon verbaut“, sagt Thomas Reipschläger vom Marketing. Weshalb man sich inzwischen auf die eigenen Kompetenzen im Bereich Hardware konzentriere, mit Komoot einen Navigationsanbieter und mit Linvall Helme mit integriertem Licht und Lautsprechern im Angebot hat. Alles kann mit dem Radcomputer gekoppelt werden – auch das eigene Smartphone.
Koppeln, verbinden, vernetzen – in diesem Bereich tummeln sich unzählige Hersteller, vor allem wenn es um die Nutzung und Auswertung von Daten geht. Mitmischen will hier auch eine junge Firma aus Friedrichshafen: Doubleslash, ein Anbieter von Softwarelösungen, an der ZF beteiligt ist. Durch das vernetzte Fahrrad sollen Ferndiagnosen möglich sein, Verschleißteile überwacht und automatisch Werkstatt-Termine ausgemacht werden. Denkbar sind auch automatisierte Notrufe bei Stürzen und das Wiederfinden geklauter Fahrräder. Das bietet zum Beispiel das deutsche Unternehmen Velocate bereits an. Michael Pauli, geschäftsführender Gesellschafter, erzählt, ihm sei sein angeschlossenes Fahrrad aus dem Keller geklaut worden. Dann habe er sich nach einer Lösung für dieses Problem umgesehen, aber kein befriedigendes Produkt gefunden. Was es gab, sei entweder „schwierig zu bedienen gewesen oder die Lebensdauer der Batterie sei zu gering gewesen“. Für eine „Crowd-GPS“-Lösung findet er gar keine netten Worte. Da funkt ein Sender am gestohlenen Rad Smartphones an, auf denen die gleiche App aktiv ist, die der Bestohlene benutzt, erklärt er. Da sei die Chance, das Rad zu finden, zu gering.
Sein Produkt, das er auf der Eurobike anpreist, hat eine festverbaute Sim-Karte – Partner ist die Deutsche Telekom – und ist unauffällig in einem Rücklicht integriert. So lässt sich das Rad per App orten, die Bewegungsdaten anzeigen und per Fingertipp eine E-Mail an die Polizei schicken. Die Nahortung funktioniert über Bluetooth, ähnlich einem digitalen Topfschlagen, zeigt die Signalstärke hier an, ob man näherkommt. Eine Weiterentwicklung kann sich Pauli gut vorstellen, um die Rest-Akkuladung anzuzeigen, Ladezyklen und Entladungsgeschwindigkeit zu überwachen, Schaltfehler zu dokumentieren und zu analysieren, die Reichweite zu berechnen.
Der deutsche Spezialist für Sicherheitstechnik Abus zeigt seine Version eines smarten Schlosses auf der Friedrichshafener Radmesse. Das Faltschloss Bordo basiert auf einer Version ursprünglich für Motorräder und soll erkennen, ob das angeschlossene Rad bloß im Wind schwankt, kurz angestoßen wurde oder ob es heftig bewegt, also gestohlen wird. Dann wird es laut, richtig laut. Smart heißt für diesen Hersteller nicht unbedingt vernetzt und per App und Smartphone steuer- und abschließbar.
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„Wir wollen, was sinnvoll ist für den Endverbraucher“, sagt AbusMarketing-Mann Christian Sommer. Und man sei zu dem Schluss gekommen, dass ein geschlossenes System smart ist, dem Kunden den größten Nutzen bietet. Andere Hersteller von Schlössern gehen diesen Weg nicht. Deren Produkte sind über eine App zu bedienen. Was für die an der Entwicklung des Bordo Beteiligten einen „unabsehbaren Rattenschwanz“mit sich bringe, allein die App jedesmal an die neusten Versionen der Betriebssysteme, wie Apples iOS oder Googles Android, anzupassen. In ihren Augen ist so ein Produkt „nicht smart“.
Überforderung durch Vielfalt
Die verschiedenen Standards sind, spricht man mit Kennern der Branche, auch ein Hemmnis in der Entwicklung digitaler Produkte. Ein Hersteller von Fahrradlichtern zum Beispiel, muss inzwischen seine Produktpalette stark erweitern, um marktfähig zu bleiben. Wo früher eine kaputte Lampe dank einheitlicher Standards bei herkömmlichen Fahrrädern ausgetauscht werden konnte, führt heute der Weg über den Radhersteller, der das genau auf dieses Produkt zugeschnittene Licht wiederum beim Zulieferer anfordert. So gibt es bis zu 70 verschiedene Ausführungen ein und desselben Lichts.
Ein Problem bei der ganzen Vielfalt an digitalen Angeboten spricht Jörg Malcherek von Continental an: „Es muss sinnvoll für den Nutzer sein“, damit der „Kunde am Ende nicht überfordert ist“von der Komplexität, von der Handhabung, Menüführung oder dem vermeintlichen Nutzen des Produktes.
Richten sich die Entwicklungen nach der doch sehr deutlich formulierten Sicherheitsmaxime von ZIVChef Neuberger, scheint die Digitalisierung des Rades sinnvoll. Bei der aktuell fast unübersichtlichen Anzahl digitaler Angebote wird wohl am Ende dann die Nachfrage regeln, ob sich vibrierende Griffe am Lenker durchsetzen, die so anzeigen, wenn sich etwas schnell von hinten nähert, oder ob ein in den Fahrradhelm integrierbares Head-Up-Display wirklich den versprochenen Mehrwert liefert.
Einen Rundgang über die Messe sehen Sie auf www.schwäbische.de/ digitalesrad