Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Der Klang der großen weiten Welt
Einzigartiges Europäisches Kompetenzzentrum für Glocken untersucht mit Hightech-Mitteln – Der Ton verrät den Gesundheitszustand
KEMPTEN - Pfusch rächt sich – beim Glockenbau manchmal erst nach 100 Jahren. 1902 stürzte der Glockenturm auf dem Markusplatz in Venedig ein: Die Glocken hatten ihn mürbe gemacht. Im Januar 2011 krachte der 900 Kilogramm schwere Klöppel des „Dicken Pitter“der größten frei schwingenden Glocke der Welt im Kölner Dom, herunter.
Hätten die Glockengießer und Turmbauer über das Know-how des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken an der Hochschule Kempten verfügt, wäre das nicht passiert. Seit gut zehn Jahren untersuchen die Ingenieure europaweit Glocken mit modernstem technischen Gerät und stellen fest, ob Schäden eingetreten oder zu erwarten sind.
„Wir Ingenieure freuen uns immer, wenn was kaputt ist,“räumt Andreas Rupp, Vizepräsident der Hochschule Kempten, freimütig ein. Rupp hat die Wissenschaft rund um die Glocken von seiner früheren Wirkungsstätte in Darmstadt mit ins Allgäu gebracht, wo 2009 mit Mitteln der EU das Europäische Kompetenzzentrum für Glocken gegründet wurde. Seither haben die beiden hauptamtlichen Mitarbeiter des Zentrums immer mehr zu tun. Ihre Auftragsbücher sind bis Sommer 2018 gefüllt. 200 Glocken in ganz Europa warten in den nächsten zwölf Monaten auf die Überprüfung.
Das technische Know-how zu erwerben, war nicht so einfach. In einer ursprünglich für die Lärmentwicklung von Fahrzeugen gebauten, schalldicht isolierten Halle auf dem Kemptener Hochschulcampus, von den Benutzern auch Glockenhölle genannt, mussten dazu bis zu dreieinhalb Tonnen große Glocken zum Teil mehrere Wochen dauergeläutet werden. Dabei wurden die Belastungen simuliert, die in bis zu 100 Jahren auftreten. „Einige Glocken haben wir kaputtgeläutet,“sagt Rupp. „Es war nötig, um die Computermodelle zu verifizieren.“
Als einzige Organisation in ganz Europa sind die Kemptener jetzt in der Lage, allein anhand ihres Klanges den Gesundheitszustand von Glocken zu erkennen. Patienten waren dabei schon die größten Glocken der Welt, etwa die 19 Tonnen schwere „Savoyarde“von Sacré Coeur in Paris, die 21 Tonnen schwere „Pummerin“im Wiener Stephansdom und, als Rekordhalter, der „Dicke Pitter“im Kölner Dom, der 24 Tonnen auf die Waage bringt.
Das Malheur mit dem im Kölner Dom abgestürzten Klöppel rief die Kemptener Glockendoktoren auf den Plan. Sie verpassten dem „Pitter“einen um 300 Kilogramm leichteren Klöppel, der seit 2012 für den guten Ton am Rhein sorgt. Rupp ist sicher, dass damit kein neuerliches Malheur zu erwarten ist. Am Petersdom in Rom wurde eigens für die Kemptener um Mitternacht ein 13. Schlag für die Untersuchung programmiert.
Droht durch eine falsche Aufhängung, Fehler beim Guss oder einen falschen Klöppel eine allmähliche Zerstörung der Glocke, verordnen die Kemptener Glockendoktoren nach eingehenden Laser-Abtastungen meistens einen anderen Klöppel. Risse in den Glocken machen diese nicht unbrauchbar. Heute werden sie geschweißt, was bei alten Glocken allerdings Konflikte mit dem Denkmalschutz hervorrufen kann.
Finanzierung fällt schwer
Seit die finanzielle Starthilfe der EU ausgelaufen ist, sei die Zukunft schwer, sagt Rupp. Wahrscheinlich sei man mit den Dienstleistungen zu billig, aber die Glockenbesitzer seien in der Regel eben keine reichen Institutionen. Ein Fachsymposium im März kommenden Jahres wird sich unter anderem mit der Rolle der Glocken als wichtiger Bestandteil der kulturellen Identität des alten Kontinents befassen.
Aber auch Juristen sind zu dem Thema eingeladen, denn immer wieder gibt es Beschwerden wegen zu lauter Kirchenglocken. In Kempten arbeitet man daher an Konzepten, Glocken in diesen Fällen ihre hohen schrill-scheppernden Töne zu nehmen, sodass sie überwiegend im unteren, eher als angenehm empfundenen Bereich klingen.