Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Auf der Suche nach Abenteuer und Einsamkeit
Im Norden der kanadischen Provinz Saskatchewan gibt es 100 000 Seen, aber nur 30 000 Menschen
Gäbe es Ric Driediger nicht schon, man müsste ihn erfinden. Als Idealbesetzung für einen kanadischen Abenteuerfilm zum Beispiel. Grauer Rauschebart, Schlapphut, hemdsärmelig und mit knielangen Shorts; ein gelassenes Lächeln auf den Lippen und den Kopf voller Geschichten. Zu seinen Füßen ein Hund, der ihm nicht von der Seite weicht. Nichts bringt den Mann aus der Ruhe – ein Trapper, wie er im Buche steht eben.
Ric ist der Besitzer und die gute Seele von Churchill River Canoe Outfitters. Der Outdoor-Ausrüster für Paddeltouren und Hostel-Betreiber ist in Missinipe beheimatet – mehr ein Camp denn eine Ortschaft mitten in der Provinz Saskatchewan in Kanada. Ungefähr 40 Einwohner hat der Flecken, einen einzigen Laden sowie urige Unterkünfte und das Thompson’s Camp, wo man deftigkanadisch bewirtet wird. Asphaltstraßen gibt es hier draußen nicht mehr, vom nächstgrößeren Ort La Ronge führt nur noch eine staubige Schotterpiste her. Der Name Missinipe stammt von den Ureinwohnern – First Nations genannt – und heißt so viel wie „großes Wasser“. Denn Missinipe liegt direkt am Otter Lake, einer von 100 000 Seen in Nord-Saskatchewan – bei gerade mal 30 000 Menschen.
Kanu-Revier erster Güte
1973 ist Ric Driediger in diese menschenleere Wildnis aus Wald und Wasser gekommen, die einst von Gletschern geformt worden ist. Der Mann, der eigentlich hätte Farmer werden sollen, blieb bis heute. In jüngeren Jahren lebte Ric noch das ganze Jahr über hier, doch bei meterhohem Pulverschnee im Winter und bis zu minus 40 Grad ist das kein Zuckerschlecken. Zwar ist das Thompson’s Camp das ganze Jahr über geöffnet, aber das ist nur etwas für die ganz Harten. Die kurzen Tage verbringt man dann mit Eisfischen und Jagen, die langen Nächte mit dem Beobachten von Polarlichtern. Fortbewegung ist nur noch per Schneemobil möglich. Jetzt überwintert Ric mit seiner Frau Theresa und seinen beiden erwachsenen Kindern in Saskatchewans Hauptstadt Saskatoon.
Fragt man Ric Driediger nach seinem eindrucksvollsten Trip in fast 45 Jahren, antwortet er mit einem Augenzwinkern: „Natürlich der, bei dem ich meine Frau kennengelernt habe.“Aber er erzählt auch von einer Schülergruppe aus dem amerikanischen Wisconsin, die einen ganzen Monat in der Natur verbracht hat. „Da kamen 30 Individualisten – und abgefahren ist eine geschlossene Gruppe.“Diese Gegend hier hält er für das beste Kanu-Revier der ganzen Welt. Zu seinen Erfahrungen gehört auch, dass es immer die Deutschen seien, die „experience“suchten, also das Erlebnis. „Die wollen immer am weitesten weg von der Zivilisation, die wollen die extremste Tour und die wenigsten Begegnungen.“Zwischen 50 und 150 Deutsche seien es pro Sommer, die sich auf den langen Weg hierher machen, nur um die Einsamkeit zu suchen. „Ihr habt zu Hause wohl zu wenig Platz und zu viele Menschen“, analysiert er lächelnd. Weil es vielen nicht schnell genug gehen kann mit dem Fortkommen, paddeln manche Gäste nicht etwa direkt am Otter Lake los, der in den Churchill River mündet, sondern bedienen sich des Fly-in. Das heißt, man lässt sich mit Sack und Pack und Kanu per Wasserflugzeug noch weiter in die Abgeschiedenheit ausfliegen, bis es überhaupt keine Wege mehr gibt. Einziger Kontakt zur Außenwelt ist in diesem Fall ein Satelliten-Telefon. Ganz wie es beliebt, wird man nach drei oder acht oder gar 14 Tagen in der Einsamkeit wieder abgeholt.
Was das Paddeln für Ric Driediger, ist das Fliegen für Ron Striker. Der 48-Jährige räumte früher in British Columbia Regale ein, bis er mit 30 Jahren endlich seinen Lebenstraum verwirklichte. 2001 machte er seine Fluglizenz und seit 2004 ist er Pilot und Manager des Abenteuerreisen-Anbieters Adventure Destinations.
Vom Otter Lake aus fliegt Ron Striker Paddler, Angler und Jäger in die unendliche Weite dieser unberührten Seenlandschaft. Ist die Twin Falls Lodge mit ihren gemütlichen Holzhütten noch relativ schnell zu erreichen, kann die Reise aber auch mehrere Flugstunden weiter in den Norden gehen bis zur Selwyn Lake Lodge oder den Canadian Fishing Outpost Camps in den sogenannten Northwest Territories. Man kann aber auch nur einen Rundflug mit dem Wasserflugzeug Typ Viking Beaver buchen und sich die Nistowiak-Wasserfälle aus der Vogelperspektive anschauen. Die Holy-Trinity-Kirche von Stanley Mission, 1865 vom englischen Missionar Robert Hunt gebaut, ist das älteste Gebäude von ganz Saskatchewan; von oben sieht sie aus wie ein weißes Spielzeughäuschen. Eine Art Nebenjob hat Pilot Ron außerdem: Er fliegt auch in der Löschflugzeug-Staffel, die in La Ronge stationiert ist. Denn trotz des vielen Wassers gibt es in der Gegend im Sommer zahlreiche Waldbrände.
Neben Ric und Ron ist Josh der Dritte im Bunde. Der Student der Umwelttechnik und Wirtschaft heuert im Sommer bei Adventure Destinations an und fährt Gäste mit dem Motorboot raus. Josh Lang tut, was ein Mann tun muss: Er steuert das Boot, hängt immer wieder die Köder an die Haken und nimmt die gefangenen Fische ganz vorsichtig wieder ab. Die zu kleinen Hechte und Zander kommen zurück ins Wasser und die ganz großen auch – sie sind zu wertvoll für die Nachkommenschaft. Gegen Abend wird eine schön gelegene kleine Landzunge direkt an den Robertson-Wasserfällen angesteuert. In Windeseile macht Josh ein Lagerfeuer, filetiert und paniert die Ausbeute des Tages und bereitet in gusseisernen Pfannen ein Mahl zu: fangfrischer Zander mit Kartoffeln, Pilzen, Zwiebeln und Bohnen. „Shore dinner“nennt sich das. Köstlich.
Weil ein aufkommender Sturm aus dem Lagerfeuer leider einen Buschbrand macht, gibt es ein Wiedersehen mit Ron Striker. Zwar nicht mit dem Löschflugzeug, aber per Boot ist er schnell zur Stelle und macht dem Brand mittels Generator und Wasserschlauch rasch ein Ende. Hier draußen muss eben jeder alles können; zu oft ist man auf sich alleine gestellt.
Nach so viel Natur und Stille auf einmal sollte man seine innere Taktung langsam wieder hochfahren. Denn „brain changes away from civilisation“, der Verstand, der Geist ändere sich abseits der Zivilisation, weiß Ric Driediger. Man werde überlegter und entspannter.
Wieder auf Normalmodus zu kommen, geht am besten, wenn man von La Ronge aus das Auto anstelle des Flugzeugs zurück nach Saskatoon nimmt. Dann kann man noch einen Abstecher in den Prince Albert National Park unternehmen. Weil Kanada 2017 seine 150-Jahr-Feier begeht, ist der Eintritt frei. Hier ist die Landschaft wieder lieblicher; man kann Wölfe, Bären, Elche, Weißkopfseeadler, Pelikane und Biber beobachten, aber auch reiten, Rad fahren, Golf spielen, Wassersport betreiben und – shoppen. Willkommen zurück in der Zivilisation.