Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Der verschollene Bruder
Sie war zehn, als sie mit ihrer Familie Moskau verließ und nach Deutschland emigrierte. Das war 1995, mitten in den Wirren nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung der früheren Sowjetunion. Nachdem sie die Studiengänge Literatur an der Universität Hildesheim und Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste absolviert hatte, wurde aus Sasha Marianna Salzmann innerhalb kurzer Zeit eine der wichtigsten Dramatikerinnen der jüngeren Generation. Sie ist eine sprachlich elegante Autorin. Das galt auch für ihre letzten Theaterstücke, in denen sie sich bereits mit einem sehr persönlichen Thema beschäftigte, das auch in ihrem Romandebüt eine zentrale Rolle spielt: Wie ist das, wenn Körpergefühl und erotisches Begehren eines Menschen nicht der gesellschaftlich vorgegebenen heterosexuellen Rollenaufteilung folgen, der zur Folge zwischen Frau und Mann eine geschlechtsspezifische Trennungslinie verläuft?
„Außer sich“, mit dem Marianna Salzmann direkt auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises landete, ist vieles in einem: Bildungs- und Migrationsroman einer russlanddeutschen Familien- und die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die nicht so recht weiß, wo sie mit ihrem Körper hingehört. Ihren verschwundenen Zwillingsbruder sucht sie ausgerechnet in der Megacity Istanbul, in der die asiatische und europäische Kultur genauso zusammenfließen wie die verzweigten Familienbande der Suchenden. Da könnte man meinen, in einem Krimi gelandet zu sein.
Aber „Außer sich“ist vor allem ein brillantes Erzählstück mit einer Protagonistin als Ich-Erzählerin, die immer wieder den russisch-europäisch-asiatischen Lebensläufen ihrer nächsten Verwandten nachgeht. Die Mutter zum Beispiel, wurde vom ersten Gatten geschlagen und vergewaltigt, was die Schwiegermutter mit der russischen „Weisheit“kommentierte: „Wenn er schlägt, dann liebt er“.
Die junge Frau heißt Ali, der verschollene Zwillingsbruder Anton. Ob sie die andere Hälfte ihres Zwillingslebens jemals finden wird, sei dahingestellt, trifft Ali in Istanbul doch auf einen Menschen, mit der oder mit dem sie eine homoerotische Affäre hat. Katharina, so der Name, gesteht am Morgen danach: „Ich bin Katho ... Ich bin ein er“. Sie oder er spritzt Testosteron, ist auf dem Weg zu einem Leben als Mann und eines jener fluiden Wesen, die die Weltliteratur seit Ovids „Metamorphosen“bevölkern.
Sasha Marianna Salzmann kannte man bis jetzt als Dramatikerin und Leiterin der Experimentierbühne des Berliner Gorki Theaters, gewöhnt sich aber sehr gerne daran, dass sie auch eine sprach- und bildkräftige Romanautorin ist. Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Roman Suhrkamp, 366 Seiten. 22 Euro.