Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Es hilft, wenn du tatsächlich frierst“
Charakterkopf im Fellkostüm – Jürgen Vogel über die Rolle des Ötzi und seine Reise in die Jungsteinzeit
Selbst für einen erfahrenen Schauspieler wie Jürgen Vogel dürfte es eine neue Erfahrung gewesen sein: Im historischen Rache-Drama „Der Mann aus dem Eis“, das diese Woche in die Kinos kam, schlüpft der 49–Jährige in Fellkostüme, um die letzten Tage im Leben jenes jungsteinzeitlichen Jägers zu rekonstruieren, dessen gut erhaltene Mumie 5300 Jahre später in Südtirol gefunden und „Ötzi“getauft werden wird. André Wesche hat Jürgen Vogel getroffen und sich mit ihm über den Film, Spiritualität und das Prinzip Rache unterhalten.
Herr Vogel, Sie haben sehr schnell für dieses Projekt zugesagt. Sicher war es reizvoll. Aber war es nicht auch ein wenig beängstigend, weil es schnell unfreiwillig komisch hätte werden können?
(lacht) Bei allen Projekten, die das Potential haben, cool und klasse zu werden, besteht immer auch die Möglichkeit des Scheiterns. Wenn man sich extrem aus dem Fenster lehnt, kann man etwas ganz Tolles entdecken – oder mächtig aufs Maul fallen. Ich finde, eine solche Herausforderung sollte man immer annehmen und sich trauen. Aber Sie haben recht: Theoretisch hätte es völlig in die Hose gehen können.
Über die Lebensumstände von Ötzis Zeitgenossen ist wenig bekannt. Wie konnten Sie sich ein Bild von dieser Welt schaffen?
Es gibt schon ein paar Sachen, die man zusammengesammelt hat. Man weiß, dass Ötzi ein guter Jäger war und wie er zu Tode gekommen ist. Man weiß, mit welchen Utensilien er gearbeitet hat und wie seine Klamotten ausgesehen haben. Er hatte sogar Nähzeug dabei, um sie notfalls flicken zu können. Ötzi gehörte einer Jägerkultur an, die auch Fallen gebaut hat. Außerdem hatte der Mann fast 70 Tätowierungen, teilweise auch auf dem Rücken. Wir reden hier von einer Zeit vor 5300 Jahren. Er hatte die Tätowierungen sicher nicht nur, um schön auszusehen. Es muss irgendeinen Grund gehabt haben. Man vermutet, dass dabei ein gewisser Glaube oder bestimmte Riten eine Rolle gespielt haben. Das ist interessant und hat uns die Möglichkeit gegeben, auch in dieser Richtung zu erzählen. Bestimmte Parameter waren also klar. Es war eine relativ hochentwickelte Kultur. Und wir haben uns darauf aufbauend eine Geschichte ausgedacht, wie es hätte sein können.
Es gibt kritische Stimmen, die zum Beispiel das Heiligtum des Filmes für viel zu fein gearbeitet halten. Wie finden Sie es, wenn bei deutschen Produktionen jede Kleinigkeit auf die Goldwaage gelegt wird?
Unwissenheit führt oft zu Dummheit. (lacht) Nee, im Ernst. Wahrscheinlich waren diese Kritiker nicht im Museum von Bozen. Wenn man dort sieht, wie die Pfeilspitzen gearbeitet waren, die man bei Ötzi gefunden hat, dann sind die viel filigraner als unser Kasten. Sie sind aus Stein und messerscharf. Man hat auch sein Messer gefunden und eine Beilklinge aus Kupfer. Auch die Nähte der Kleidung sind sehr beeindruckend. Das waren nicht irgendwelche Höhlenmenschen. Und gerade was Requisiten, Kostüm, Ausstattung und Maske betrifft, stehe ich sowas von dahinter. Es war grandios, auch während der Arbeit Materialien zu haben und benutzen zu dürfen, die alle funktionieren. Klamotten, die warm halten. Ich war ja auch abhängig von diesen Sachen. Und sie waren sehr beeindruckend.
Darf man den Film als Rachethriller und Roadmovie bezeichnen?
Roadmovie weiß ich nicht. Man darf ihn natürlich bezeichnen, wie man möchte. Aber auf jeden Fall als Abenteuerfilm mit einer historischen Figur, die uns beschäftigt. Ötzi ist der erste Mensch aus dieser Zeit, den man in so gut erhaltenem Zustand als Feuchtmumie gefunden hat.
Das Prinzip Rache ist nach wie vor fest im Kleinhirn des Menschen verankert. Manche Staaten praktizieren es in Form der Todesstrafe. Welchen Standpunkt haben Sie zu diesem Thema?
Ich bin überhaupt nicht für die Todesstrafe. Aber Rache ist in unserem Film natürlich ein großes Motiv. Als Emotion finde ich sie nachvollziehbar. Aber vom gesellschaftlichen Standpunkt aus bin ich natürlich dagegen. Eine Gesellschaft darf nicht so handeln. Sie hat ja auch eine Vorbildfunktion. Wir ziehen unsere Kinder damit groß, dass es Unrecht ist, andere Menschen zu töten. Dann darf sich ein Staat diese Freiheit erst recht nicht herausnehmen. Das ist doch ein Absurdum. Es funktioniert in Amerika ja auch nicht so gut. Da bin ich sehr froh, dass wir hierzulande leben.
Aber als Familienvater denkt man durchaus darüber nach, wie man reagieren würde, wenn jemand Frau und Kindern etwas zuleide täte.
Solche Gedanken sind absolut nachvollziehbar. Wir wollen die Zuschauer mit dem Film genau auf diese Reise mitnehmen. Man soll jede Emotion verstehen. Aber wir haben ja eben über eine Gesellschaft geredet. Und eine Gesellschaft muss einfach besser sein als das Individuum. Ein Staat verschafft sich nicht nur dadurch Autorität, dass er Dinge verbietet. Er muss ein Vorbild sein und eine Lösung für die Probleme dieser Welt finden. Nicht die schnelle, kurze Lösung, die eigentlich keine ist. Niemand kommt dadurch zurück. Im Film sieht man ja sehr genau, was es mit einem macht und was einem passieren kann, wenn man sich in eine Spirale des Hasses begibt.
Ist eine Botschaft des Filmes, dass der Glaube die Menschen ins Verderben führen kann?
Das würde ich so nicht sagen. Man sollte nicht im Namen des Glaubens töten. Der Glaube an sich ist nicht daran schuld. Das Töten kann nie zum Ziel führen. Der Glaube bietet einer Gesellschaft die Möglichkeit des Zusammenhaltens. Vor allem in den ärmsten und krisengeschüttelten Regionen dieser Welt ist der Glaube ein sicherer Halt für viele Menschen.
Haben Sie eine spirituelle Seite?
Ich glaube, dass jeder Mensch irgendwo die Hoffnung auf Erlösung in sich trägt. Dass es etwas gibt, das über dem steht, was man mit den Händen greifen kann. Es existiert eine große Sehnsucht danach. Ich bin kein Kirchengänger, aber ich glaube schon, dass es eine positive Kraft gibt, irgendetwas Gutes.
Gibt es Momente, in denen man die Kameras und die Crew ausblenden kann und denkt: So war es also!
Es muss Momente geben, in denen du das ganze Drumherum vergisst und hier und jetzt versuchst, etwas herzustellen, was damals hätte passieren können. Dazu muss man sich vorstellen können, wie es gewesen ist, damals in einer solchen Situation zu sein. Dabei hilft es, wenn du auch tatsächlich frierst, wenn du wirklich wandern musst, wenn du angestrengt und fertig bist. Man kann nicht nur so tun als ob, man muss physisch wirklich arbeiten. Wir haben nicht in einer Garage vor einer Greenscreen gestanden und der Rest wird digital hinzugefügt. Man stand wirklich auf den Bergen, 2700 Meter hoch, und wackelte über den Kamm. Das sind tolle Erfahrungen.
Wenn Sie Ötzi eine Frage stellen könnten, welche wäre das?
Ich möchte natürlich wissen, wer ihn erschossen hat.