Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Klimaschutzziel 2020 steht bei Sondierung auf der Kippe
Pläne von Union und SPD stoßen auf Kritik – BDI-Chef Kempf fordert mehr Realismus
BERLIN (dpa/AFP) - Die Unterhändler von Union und SPD wollen das deutsche Klimaschutzziel einer Reduzierung des Kohlendioxid-Ausstoßes um 40 Prozent bis 2020 im Vergleich zum Jahr 1990 offiziell aufgeben. Stattdessen soll mit einem Maßnahmenpaket erreicht werden, dass die Lücke zu diesem Ziel so weit wie möglich geschlossen werden kann. Das sieht nach Informationen mehrerer Medien die Einigung der Sondierungsgruppe „Energie, Klimaschutz, Umwelt“vor. Der Kompromiss sei aber noch nicht von den Fraktionschefs abgesegnet.
In dem Papier, dies berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), heißt es: „Das kurzfristige Ziel für 2020 wird aus heutiger Sicht nicht mehr erreicht werden.“Eine mögliche neue Große Koalition will demnach aber am Ziel festhalten, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren.
Seit Längerem ist absehbar, dass die alte Zielmarke kaum noch erreichbar ist. Das Ziel wurde nicht beim Pariser Klimaschutzabkommen vereinbart, sondern 2007 von der damaligen Großen Koalition national gesetzt. Seitdem hat sich jede Bundesregierung dazu bekannt. Noch im September hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Wahlkampf in einer TV-Debatte einer Fragestellerin gesagt: „Wir werden Wege finden, wie wir bis 2020 unser 40-Prozent-Ziel einhalten. Das verspreche ich Ihnen.“
Die mögliche Abkehr hat Kritik von Grünen und Linken hervorgerufen. „Wird das 2020-Ziel tatsächlich aufgegeben, so bricht Bundeskanzlerin Angela Merkel klar ein zentrales Wahlversprechen“, sagte der LinkenKlimaexperte Lorenz Gösta Beutin. Die Zielmarke werde „zum ersten Opfer“der neuen Koalition, das sei „unfassbar verantwortungslos“, kritisierte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Montag auf Twitter. In den Jamaika-Sondierungen hatte das Klimaziel für Streit gesorgt. Die Grünen wollten daran festhalten, die FDP hatte es angezweifelt.
Unabhängig von der laufenden Debatte hat am Montag Dieter Kempf, der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), in der Energie- und Klimapolitik mehr Realismus gefordert. Kempf sprach sich zwar nicht für eine Aufweichung des Klimaziels aus, warnte aber vor deutschen Alleingängen. Solche nationalen Schritte seien kontraproduktiv, denn „Produktion würde ins Ausland verlagert, der Strompreis weiter steigen“.
Die Sondierungen von Union und SPD hatten am Sonntag in Berlin begonnen. Gestern kamen die Verhandler erneut zusammen, dieses Mal, um über Europa zu sprechen. Die Gespräche sollen am Donnerstag beendet werden.
Sind die Flügel bei den Grünen überholt? Zumindest erschweren sie die Personalauswahl enorm. Was hätte Cem Özdemir an der Fraktionsspitze für Reden halten können, wie hätte er als Chef der kleinsten Fraktion im Bundestag den Grünen Gewicht verleihen können, wenn er denn ein Linker oder eine Frau wäre. Simone Peters größtes Pfund wiederum war, dass sie eben dies ist. Es ist kein Wunder, dass Özdemir darüber verbittert ist.
Nun wollen die Grünen in gut zwei Wochen an ihrer Parteispitze einen Neuanfang wagen, aber den alten Proporz beibehalten. Sie bejubeln einen Freigeist wie Robert Habeck, der die Flügel für überholt hält und Parteichef werden will. Aber nur Realos an der Spitze wollen sie nun auch nicht. Die Flügel der Grünen stehen heute für die Ausrichtung auf Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün. Doch die Realität hat solche Ziele längst überholt. Als er 1986 zu den Grünen kam, habe er sich nicht vorgestellt, dass er einmal mit der CSU ernsthafte Sondierungen führen müsse, sagt Toni Hofreiter. Vielleicht stellt in 20 Jahren ein Nachfolger fest, dass er sich die Grünen nicht ohne Flügelkämpfe hätte vorstellen können. Robert Habeck ist jemand, dem es zumindest zugetraut wird, diesen Prozess einzuleiten.
s.lennartz@schwaebische.de