Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Keiner versteht den Trainer
Die Ausbootung von Abwehrchef Finn Lemke schockte offenbar auch die Mannschaft
NEU-ULM (SID/dpa) - Die vorerst letzten freien Stunden genoss Christian Prokop im Kreise seiner Liebsten. Während es Torjäger Julius Kühn am Montag in den Kraftraum zog und Kapitän Uwe Gensheimer beim Frisör seine Haare in Form bringen ließ, lud der Bundestrainer die Akkus für die bevorstehende EM-Mission der deutschen Handballer zu Hause bei Töchterchen Anna und Sohn Luca auf.
„Ich muss noch ein bisschen was vorbereiten, aber ich freue mich auch, die Familie zu sehen und da noch einmal Energie zu tanken“, sagte Prokop. An seiner Vorfreude auf den Abflug am Donnerstag ließ der 39-Jährige aber keinen Zweifel: „Wir sind voll motiviert und freuen uns natürlich auf Kroatien.“
Zuvor hatte sich Prokop mit einem Paukenschlag von seinen Spielern in den zweitägigen Kurzurlaub verabschiedet. Die Nicht-Berücksichtigung von Finn Lemke, Abwehrchef und gewissermaßen Ober-Bad-Boy beim Titelgewinn vor zwei Jahren in Polen, sorgte angeblich auch bei weiten Teilen des Teams für Fassungslosigkeit. Kaum einer hatte mit der Aussortierung Lemkes gerechnet, in der Kabine herrschte zum Ende der Vorbereitung trotz der überzeugenden Siege gegen Island minutenlang Totenstille.
Stephan übt Kritik
Auch außerhalb des Teams schlägt Prokops Nominierung, bei der mit Rückraumspieler Fabian Wiede und Linksaußen Rune Dahmke zwei weitere Europameister zunächst hinten runter fielen, hohe Wellen. So schätzt der frühere Welthandballer Daniel Stephan das Aufgebot als riskant ein. „Wenn diese Entscheidungen nicht zum erhofften Erfolg führen, kann das natürlich für ihn zum Bumerang werden“, sagte Stephan: „Viele verstehen diese Kaderplanung nicht so ganz.“
Lemke sei schließlich „wesentlicher Bestandteil und der Motor der alles überragenden Abwehr des deutschen Teams“, sein Fehlen würde einige Spieler im EM-Kader „wahrscheinlich schocken, andere verunsichern“. Lemkes Melsunger Vereinstrainer Michael Roth war sauer: „Auf solche Qualität ohne Not zu verzichten, wirft Fragen auf. Wenn einer das alles mitbringt wie Lemke und keine Verletzung hat, ist es schon fahrlässig und schwer erklärbar.“Prokop selbst sprach von der „unangenehmsten Entscheidung“ seiner bisherigen Zeit als DHB-Coach. Eine Wahl, die auch den früheren Weltmeister-Coach Heiner Brand verblüffte, er sagte: „Das ist eine sehr mutige Entscheidung, aber er ist der Bundestrainer. Er hat das Recht, so zu handeln.“
Verbandsvize Bob Hanning verteidigte das Vorgehen Prokops. „Er hat sich für sein Spielsystem entschieden, und hat sich danach den Kader ausgesucht“, sagte Hanning und verwies auf die bis zu sechs Wechseloptionen im Laufe des Turniers: „Wer weiß, ob Finn Lemke im Traum-Halbfinale gegen eine der Top-Mannschaften wieder mit dabei ist. Ich finde, wir sollten jetzt erstmal abwarten, was passiert. Wir tun gut daran, dem Bundestrainer zu vertrauen und uns auf eine erfolgreiche Europameisterschaft zu freuen.“
Statt Lemke, Wiede und Dahmke nimmt Prokop den Rückraumspieler Maximilian Janke und Bastian Roscheck als vierten Kreisläufer mit. Beide gelten als flexible Spielertypen, beide feierten allerdings erst am Wochenende ihr Debüt. „Es sieht schon irgendwie ein wenig komisch aus, dass Roscheck und Janke von Prokops ehemaligen Verein Leipzig den Vorzug bekommen haben“, sagte 2004Europameister Stephan.
Prokop habe „seine eigene Philosophie und muss diese auch verfolgen, aber er geht mit diesen Entscheidungen natürlich ein ziemliches Risiko ein“, sagte Stephan: „Der Druck wird damit nicht weniger, im Gegenteil.“
Die Partien gegen Island allerdings zeigten: In der Breite ist das deutsche Team so stark wie lange nicht mehr besetzt, im Angriff besticht die DHBAuswahl durch ein beeindruckendes Tempo und eine große Variabilität. „Es ist phänomenal bei uns. Egal wer reinkommt, bringt seine Leistung. Es wird immer flüssiger. Wir sind gerüstet“, sagte Linkshänder Kai Häfner. Auch Andreas Wolff, der sich wie Torhüter-Kollege Silvio Heinevetter in Hochform befindet, wird „mit einem guten Gefühl in Kroatien auflaufen. Ich freue mich auf das Turnier und hoffe, dass es einen ähnlichen Verlauf nimmt wie vor zwei Jahren.“