Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Diese Gewalt wird verniedlic­ht, verharmlos­t, unterschät­zt“

Kriminalit­ät findet häufig auch in Familien statt – Ein Gespräch mit dem Leiter des Weißen Rings Biberach

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BIBERACH - Einer, der sich auskennt mit dem Spektrum der Kriminalit­ät in der Region Laupheim und im Kreis Biberach ist Hans Birkle. Der 68-Jährige ist Leiter der Opferhilfe­Organisati­on Weißer Ring im Kreis und war über vier Jahrzehnte KripoBeamt­er in Biberach. So hat er unzählige Tatorte kennengele­rnt. Seit langem beschäftig­t er sich intensiv mit der Opferhilfe. Er weiß, wie Straftaten Menschen aus der Bahn bringen können. Überfälle, Einbrüche, Diebstähle sind die Klassiker. Böse Folgen haben aber auch Taten, über die ungern gesprochen wird: sexuelle Gewalt und Stalking – Delikte, die oft im familiären Umfeld stattfinde­n. Das Gespräch führte SZ-Redakteur Axel Pries.

SZ: Was macht der Weiße Ring im Kreis Biberach?

Birkle: Wir helfen Kriminalit­ätsopfern. Das ist die Oma, die auf dem Markt bestohlen wurde und dann nichts mehr hat oder das sind Angehörige bei Tötungsdel­ikten. Oder vergewalti­gte Frauen oder Familienan­gehörige mit Missbrauch­serfahrung­en: Diesen Menschen versuchen wir zu helfen.

Wie viele Fälle betreuen Sie derzeit?

Das schwankt, zur Zeit sind es zwischen 15 und 20 aus dem ganzen Kreis Biberach. Wir sind insgesamt zehn Mitarbeite­r.

Arbeiten Sie mit Behörden zusammen, etwa mit der Polizei?

Wir in Biberach bekommen etwa 90 Prozent unserer Fälle über die Polizei.

Haben Sie viel zu tun?

Das ist unterschie­dlich. Im Jahr sind wir meist mit 50 bis 70 Fällen beschäftig­t.

Was sind denn die klassische­n Opfer, die sich an Sie wenden?

Klassische Fälle gibt es vor allem im Bereich der sexuellen Gewalt: Missbrauch, Nötigung bis zur Vergewalti­gung. Dann natürlich die Opfer-Angehörige­n bei schweren Gewaltdeli­kten wie Mord und Totschlag.

Wie helfen Sie?

Wir versuchen, mit den Opfern in Kontakt zu kommen und schauen: Wo liegen die größten Probleme der Menschen? Das ist bei Einbruchsf­ällen häufig die Psyche. Manche sind regelrecht traumatisi­ert, und da müssen wir sehen, dass sie wieder zum normalen Leben zurückfind­en.

Einbruch ist hier ja ein relativ häufiges Delikt, was wahrschein­lich an der Bundesstra­ße liegt, die eine schnelle An- und Abfahrt im Kreis ermöglicht. Was erleben Sie mit Einbruchso­pfern?

Schwerpunk­te sind die Gemeinden entlang der B30 – vor allem im nördlichen Bereich und im Illertal. Bei Einbruchso­pfern erlebt man häufig psychologi­sche Probleme bis hin zu posttrauma­tischen Belastungs­störungen. Da versuchen wir halt in der Regel, den Betroffene­n möglichst schnell zu fachärztli­cher Behandlung zu verhelfen. Das Problem ist, dass die Psychologe­n relativ gut ausgelaste­t sind und Termine häufig erst nach sechs, zwölf oder 18 Wochen zu bekommen sind. Wir haben aber Ansprechpa­rtner, bei denen eine Erstbetreu­ung schon nach ein bis zwei Wochen erfolgen kann.

Sie sprechen auch mit Opfern über das Erlebte?

Natürlich, soweit sie das wünschen und bereit dazu sind. Wir sind keine ausgebilde­ten Psychologe­n, aber wir versuchen im Gespräch heraus zu finden, wo es den Menschen am meisten fehlt. Und dann wird eine Behandlung in die Wege geleitet.

Was macht den Einbruch zu einem so traumatisi­erenden Erlebnis? Müssen Opfer dem Täter begegnet sein?

Nein! Es ist das verlorene Sicherheit­sgefühl in den eigenen Wänden, ein Verlust von dem Gefühl: My home is my castle (Mein Zuhause ist meine Burg / Red.). Wenn das eintritt, sind viele Leute stärker belastet, als sie es sich jetzt vorstellen können.

Was ist es, was die Leute außerdem stark bewegt? Mord, sicherlich, aber das haben wir zum Glück nicht oft. Gibt es zum Beispiel Stalking-Opfer? Opfer von Gewalt in der Familie? Können Sie in solchen Fällen helfen?

Wir haben auch Stalking-Opfer. Es gibt mehr solche Fälle als man es glaubt. Vielfach wissen die Opfer nicht, wie sie sich wehren sollen und scheuen sich, an die Öffentlich­keit zu gehen und sich helfen zu lassen. Stalking hat mich auch noch die letzten fünf Jahre meines Berufslebe­ns als Opferschut­zbeauftrag­ter der Polizeidir­ektion Biberach sehr beschäftig­t. Was ganz stark belastet, das ist der sexuelle Missbrauch innerhalb von Familien, innerhalb von Beziehungs­gemeinscha­ften. Das geht meist über viele Jahre hinweg. Manchmal gibt es Verhandlun­gen, und dann wird ein Mitglied weggesperr­t. Das muss nicht immer der Mann sein, es sind manchmal auch ältere Geschwiste­r. Und so etwas belastet die Betroffene­n unheimlich stark. Tötungsdel­ikte finden in aller Regel ihren Abschluss und sind einmalige Geschichte­n, die aufgearbei­tet werden können. Nötigung und Gewalt in der Familie nimmt manchmal lange keine Ende.

Die Familie als Ort der Gewalt?

Im häuslichen Bereich gibt es mehr Gewalt, als die meisten Leute annehmen. Das wird alles verschwieg­en und meist innerfamil­iär behandelt. Diese Form der Gewalt wird verniedlic­ht, verharmlos­t, unterschät­zt. Wer nicht ausbrechen will, der lebt eben in der Gewaltsitu­ation weiter. Wer sich nicht helfen lassen will, dem kann man nicht helfen. Die Strukturen sind unglaublic­h vielschich­tig, und es gibt kein Patentreze­pt.

Wer tut wem dabei Gewalt an?

Das kann jeder sein. Dem Spektrum sind keine Grenzen gesetzt, und das ist sehr belastend.

Sie haben als Kripobeamt­er und Mitarbeite­r beim Weißen Ring ein Leben lang mit Kriminalit­ät zu tun gehabt und können das vielleicht beurteilen: Gefühlt gibt es immer mehr Kriminalit­ät – aber in der Realität auch?

Ich habe nicht den Eindruck, dass die Kriminalit­ät auffällig stark gestiegen ist. Es gibt immer wieder neue Formen von Kriminalit­ät. Etwa im Zusammenha­ng mit Flüchtling­en, denken wir an die Kölner Nacht. Dabei darf man dann keine falschen Schlüsse ziehen. Es gibt zum Beispiel in neuerer Zeit das Cybermobbi­ng und die ganze InternetKr­iminalität, da hat sich die Polizei auch drauf einstellen müssen. Die Schwerpunk­te verändern sich.

Das Spektrum hat sich verschoben, aber die Gesellscha­ft ist nicht kriminelle­r geworden?

Also, ich würde sagen, da hat sich nichts maßgeblich verändert. Das gilt auch für den Kreis Biberach.

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FOTO: AEP Fachmann in Sachen Kriminalit­ät: Hans Birkle.

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