Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Lieschen Müller weltweit
Andere Länder, andere Namen: Ein internationaler Streifzug zur Bezeichnung von Mann und Frau von der Straße
BERLIN (dpa) - Wenn die Welt kompliziert ist, gibt es im Deutschen den Satz: „Das versteht Lieschen Müller nicht.“Das heißt, die Frau von der Straße, die nicht rund um die Uhr Akten studiert oder Leitartikel liest, kommt einfach nicht mehr mit. Auch bei Otto Normalverbraucher weiß der Bürger, wovon die Rede ist: von ihm, dem Normalo, der Steuern zahlt oder um seinen Diesel fürchtet. Oft spielt der Begriff in der Politik eine Rolle, wenn es bürgernah werden soll. Das Phänomen gibt es in vielen Sprachen und Ländern der Welt.
In Italien heißt Pinco Pallino so viel wie Otto Normalverbraucher. Für Formulare wird Mario/Maria Rossi oder Bianca Rossi benutzt. Ein bekannter Begriff in den USA ist John Doe oder Jane Doe. So wie Erika Mustermann in den deutschen Behörden. Auch Frau Mustermann hat eine Geschichte, aber dazu später.
In den Niederlanden heißt Otto Normalverbraucher Jan Modaal (Jan Durchschnitt). Interessant ist: In den letzten zehn Jahren ist zunehmend eine andere Bezeichnung aufgekommen, die der Rechtspopulist Geert Wilders geprägt hat – „Henk und Ingrid“. Wilders definierte diese selbst als „Durchschnittsniederländer“. Bodenständige, ehrliche Leute, die sich nach seiner Darstellung von „Ahmed und Fatima“bedroht fühlen, weil sie diese letztlich finanzieren müssten. Viele Niederländer, die tatsächlich Henk oder Ingrid heißen, haben sich von dieser Sicht distanziert.
In der Türkei funktioniert es ebenfalls mit Vornamen. Dort heißen die sprichwörtlichen Bürger etwa Ali, Veli, Ahmet, Mehmet, Ayse oder Fatma. Auch der Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt das gerne in seinen Reden. Ein Beispiel: „Und ich persönlich achte nicht darauf, was Hans und George sagen. Ich achte darauf, was Ahmet, Mehmet, Hasan, Hüseyin, Ayse, Fatma und Hatice sagen.“Mit Hans ist „der Deutsche“gemeint und mit George „der Amerikaner“.
In Polen ist sowohl der Mustername für Formulare als auch der Normalverbraucher Jan Kowalski. Sowohl der Vor- als auch der Nachname sind weitverbreitet. Man spricht auch vom „gewöhnlichen Kowalski“(zwykly Kowalski). In Österreich warnt ein Portal vor „Ernährungsfehlern von Herrn und Frau Österreicher“. In der Slowakei ist Lieschen Müller ein Mann – der heißt Jozko Mrkvicka. Jozko ist die Koseform von Jozef, einem traditionellen Vornamen. „Mrkvicka“ist die Verkleinerungsform vom Wort für Karotte, heißt also etwa Möhrchen.
In Israel heißen Durchschnittsbürger in der Statistik oder in Dokumenten Israel Israeli (Mann) oder Israela Israeli (Frau). Früher wurde im Straßen-Slang der jiddische Name Moische Suchmir (auf Deutsch etwa: Mosche Suchmich) gebraucht, wenn es um eine beliebige Person ging.
In Frankreich ist der Mann auf der Straße gelegentlich Monsieur Dupont oder Monsieur Durand (auch mal Madame Durand), diese Menschen haben aber keine Vornamen wie in anderen Ländern.
Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher heißen in Norwegen Ola und Kari Nordmann – „Nordmann“ist der Norweger. In Finnland spricht man von Matti und Maija Meikäläinen, wobei „Meikäläinen“„einer von uns“heißt. In Schweden sagt man Medel-Svensson für den Durchschnittsbürger, in Dänemark Herr Sørensen.
Der Durchschnittsbürger in Estland heißt Jaan Tamm. Sein Namen setzt sich zusammen aus der estnischen Form des traditionellen Vornamens Johannes und des am weitesten verbreiteten Nachnamens in dem Baltenstaat. „Tamm“heißt übersetzt Eiche – sie gilt wie in Deutschland als Nationalbaum. Lieschen Müllers Verwandte in Estland ist Tädi Maali – wörtlich: Tante Amalie.
Bezug zu schlichter Kleidung Lettland
Auch im benachbarten steht mit Janis Berzins der so ziemlich häufigste Vorname im Land Pate für die Bezeichnung des Durchschnittsbürgers. „Berzins“ist die Verkleinerungsform von Birke.
In Spanien und im spanischsprachigen Lateinamerika wird von Fulano (irgendwer) gesprochen. Es gibt die Varianten Fulano de tal (Typ so und so) und Fulano y Mengano (Hinz und Kunz) oder Fulano, Mengano y Perengano. Diese Bezeichnungen können auch abwertend gemeint sein.
Das Phänomen gibt es rund um den Globus. In China wird als Mustername auf Formularen der Name Zhang San benutzt. Chinesen schreiben ihren Familiennamen vor den Vornamen. Laut Regierungszahlen von 2014 haben 85 Millionen Chinesen den Familiennamen Zhang. Noch häufiger kommen allerdings die Nachnamen Li (92 Millionen) und Wang (94 Millionen) vor. Um in China die einfache Bevölkerung zu beschreiben, wird oft der Begriff Buyi genutzt, der übersetzt so viel wie schlichte Baumwollkleidung heißt. Die Bezeichnung stammt aus einer Zeit, in der sich nur sehr wohlhabende Menschen Kleidung aus hochwertigeren Materialien leisten konnten.
In Japan verwendet man das Wort Shomin, wenn vom einfachen Mann von der Straße die Rede sein soll. Das Wort kann man auch mit „das Volk“übersetzen. Musternamen auf Formularen sind Kimura Hanako oder Yamada Hanako. Die Familiennamen Kimura und Yamada sind in Japan in etwa so verbreitet wie bei uns Schmidt oder Müller.
Eine seichte, kritiklose Person Deutschland
In ist Erika Mustermann seit den 80er-Jahren als Ausweisname bekannt. Ihre Vorgängerin hieß Renate Mustermann und kam aus Bonn. Die Fotos von Frau Mustermann heute und früher zeigen Mitarbeiterinnen der Bundesdruckerei, die die Ausweise für die deutschen Ministerien fertigt. Die Druckerei hält sich bei dem Thema bedeckt. Wer die Frauen sind, soll geheim bleiben. So bleibt Frau Mustermann ein Rätsel, an dem sich schon viele Reporter abgearbeitet haben.
Und was steckt hinter Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher? Der Sprachwissenschaftler Lutz Kuntzsch und seine Kollegin Hannah Schultes von der Gesellschaft für deutsche Sprache verweisen auf Expertenaufsätze zum Thema: So ist Lieschen Müller laut Autor Heinz Küpper eine „fiktive Person mit seichter, kritikloser, zu Rührseligkeit neigender Kunstauffassung“. Möglicherweise stammt der Name aus dem Roman „Lumpenmüllers Lieschen“aus dem 19. Jahrhundert.
Otto Normalverbraucher kommt demnach von einer gleichnamigen Filmfigur, die von Gert Fröbe gespielt wurde. Die „Berliner Ballade“erzählt die Geschichte eines Kriegsheimkehrers, der seinen Alltag zwischen Ämtern und Lebensmittelkarten meistern muss. Wovon Otto Normalverbraucher anno 1948 im Film träumte: Eine blonde Frau serviert ihm an einem Buffet Berge von Kuchen.