Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Jede zweite Abschiebung scheitert
Das zeigen Zahlen aus Stuttgart und Berlin – Woran das liegt und was sich ändern müsste
STUTTGART - Sie müssten das Land verlassen, leben aber weiter hier: Laut Bundesregierung waren Ende 2017 mehr als 6000 Menschen in Baden-Württemberg und rund 9000 in Bayern ausreisepflichtig. Sie haben nach Ansicht von Behörden und Gerichten keinen Anspruch auf Schutz. Zwar reisten 2017 bundesweit mehr als 40 000 Menschen freiwillig aus. Die Abschiebung jener, die trotz Aufforderung bleiben, scheitert oft. Fragen und Antworten im Überblick.
Wie viele Abschiebungen scheitern?
Bayerns Innenministerium kann dazu gar keine Auskunft geben. „Statistiken über ,gescheiterte’ Abschiebungen gibt es nicht“, teilte ein Sprecher es auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit. In Baden-Württemberg legte das Innenministerium die Zahlen auf Anfrage der FDP vor. Demnach planten die Behörden zwischen Juni 2017 und Ende Mai 2018 mehr als 8030 Abschiebungen, davon scheiterten 4886 – also deutlich mehr als die Hälfte. Wollte die Polizei Menschen aus den Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEA) abschieben, gelang das noch seltener. In 70 Prozent der Fälle kehrten die Polizisten unverrichteter Dinge um. Auf Bundesebene misslingt laut Medienberichten ebenfalls jede zweite Abschiebung: Die „Welt am Sonntag“zitiert aus einem internen Bericht der Bundespolizei. Demnach konnten bis Ende Mai von 23 900 angekündigten Rückführungen nur 11 100 umgesetzt werden.
Warum scheitern Abschiebungen?
In den meisten Fälle treffen die Polizisten die Menschen nicht an, die abgeschoben werden sollten – obwohl Abschiebungen nicht angekündigt werden. Polizisten dürfen bei einer Abschiebung aus einer Aufnahmeeinrichtung nur das Zimmer jeder betroffenen Person sowie Aufenthaltsräume betreten. Aus Sicht des Gesetzgebers rechtfertigt eine Abschiebung es nicht, die Privatsphäre anderer Bewohner zu stören. Bemerken LEA-Bewohner, dass Polizisten auftauchen, verlassen sie daher oft einfach ihr Zimmer. In mehr als 100 Fällen in Baden-Württemberg widersetzten sich Abzuschiebende so heftig, dass die Maßnahme abgebrochen wurde. Das geschieht meist, wenn Menschen mit Passagierflugzeugen abgeschoben werden und sich Piloten mit Rücksicht auf andere Passagiere weigern, die Betroffenen und ihre Begleiter von der Bundespolizei an Bord zu nehmen. Zudem rechtfertigen Abschiebungen laut Gesetz nicht in jeder Lage den vollen Einsatz möglicher Zwangsmaßnahmen.
Müssen die Menschen nicht in einer LEA bleiben?
Nein. Sie müssen dort wohnen und dürfen nirgendwo anders einen Wohnsitz anmelden. Aber sie dürfen sich im Landkreis frei bewegen. Oft setzt die Polizei Abschiebungen daher nachts an – oder wenn Taschengeld ausgegeben wird. Zu diesen Zeiten sind viele Menschen in den LEAs.
Was passiert nach einer gescheiterten Abschiebung?
Widersetzen sich Menschen, ordnen die Behörden einen erneuten Versuch mit mehr Sicherheitspersonal an. In einigen Fällen kann das landesweit zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe Abschiebungshaft bei einem Richter beantragen.
Wer kommt in Abschiebehaft?
Wer nicht in Deutschland bleiben darf, hat zunächst Zeit, das Land freiwillig zu verlassen. In der Regel setzen Behörden den Betroffenen dafür eine Frist zwischen einer Wochen und einem Monat. Wenn diese Menschen eine Grenze ins Ausland überqueren, schickt die Bundespolizei darüber eine Bescheinigung an die Behörden im entsprechenden Bundesland. Wer nicht freiwillig ausreist, kann grundsätzlich in Haft genommen werden, wenn er illegal eingereist ist und ansonsten alle Dokumente für die Abschiebung vorliegen. In der Praxis trifft das auf sehr viele Menschen zu. Die Haftplätze sind aber begrenzt. Den Antrag auf Haft stellen die Behörden in Baden-Württemberg deswegen nur dann, wenn sich jemand der Abschiebung entzogen hat, als potenzieller Terrorist und Gefährder gilt oder konkrete Fluchtgefahr besteht.
Wie viele Menschen könnten in Haft genommen werden?
Darauf haben die Innenministerien in Bayern und Baden-Württemberg keine Antwort. „Der Aufwand für eine solche Statistik wäre zu groß“, erklärt ein Sprecher von Baden-Württembergs Minister Thomas Strobl (CDU). Der Innenexperte der SPD Sascha Binder hält das für fatal. Ohne diese Statistik sei es quasi unmöglich, belastbare Auskünfte zur Lage zu treffen. Außerdem gebe es viel zu wenig Plätze für Abschiebehäftlinge.
Gibt es tatsächlich nicht genug Plätze für Abschiebehäftlinge?
Baden-Württemberg hat 36 Plätze, weitere 44 sollen bis 2020 hinzukommen. In Bayern gibt es 131. Diese waren in beiden Bundesländern zuletzt sehr gut ausgelastet. Dennoch hält Innenminister Strobl weitere Haftplätze nicht für nötig. Sein bayerischer Amtskollege Joachim Herrmann (CSU) sieht das für den Freistaat anders. Die Erfahrung zeige, dass Abschiebehaft immer wichtiger werde, um Menschen wirklich abschieben zu könne. Deswegen brauche man mehr Platz. Die Oppositionsparteien SPD und FDP fordern dasselbe für Baden-Württemberg.