Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Weites Land, weite Wege
Der Einsatz eines Rettungshubschraubers entscheidet oft über Leben und Tod – Nachtflüge sind ein Problem
ULM - Es sind ganz normale Tage wie diese, die Frédéric Bruder bestätigen: Verdacht auf Herzinfarkt bei einem älteren Herrn in Schwendi im Landkreis Biberach. Karambolage auf der A 7 in Richtung Würzburg mit Schwerverletzten. Krankentransport eines Patienten vom Kreiskrankenhaus Ehingen ins Münchner Großklinikum Großhadern: Verdacht auf schwere Niereninsuffizienz. Drei Einsätze für den Ulmer Rettungshubschrauber Christoph 22, drei Einsätze auf dem Land. Und drei Einsätze, die für Frédéric Bruder, den Geschäftsführer der ADAC Luftrettung, wieder einmal beweisen, dass der ADAC richtig liegt, wenn er die Luftrettung als „Daseinsvorsorge“betrachtet: „Damit wir in Deutschland auch Chancengerechtigkeit auf dem Land haben – und zwar am Tag wie in der Nacht.“
35 Prozent der Bevölkerung, also etwa jeder dritte Baden-Württemberger, leben im ländlichen Raum, der 70 Prozent der Landesfläche ausmacht. Gefühlt sind es noch mehr Menschen: Etwa 60 Prozent der Baden-Württemberger geben an, sie gehörten zum ländlichen Raum. „Der ländliche Raum ist damit zu Recht das Rückgrat unseres Landes“, betont die Landesregierung oft und gerne. Doch bei Notfällen zeigt sich: weites Land, weite Wege.
Die Erstversorgung ist sichergestellt: Rettungswagen erreichten 2016 – die Zahlen aus dem Jahr 2017 liegen noch nicht vor – im Schnitt sieben Minuten nach Alarmierung durch die Rettungsleitstelle den Ort des Unglücks. In 33 von 34 Rettungsbezirken erreichten die Erstretter 2016 in mehr als 90 Prozent aller Einsätze den Unfallort innerhalb der Hilfsfrist von 15 Minuten. Nur noch in Waldshut wurden diese Werte nicht erreicht, 2015 war das noch in Waldshut und Heilbronn der Fall. In 21 (Vorjahr: 19) Rettungsbezirken trifft der Notarzt in mehr als 90 Prozent der Einsätze innerhalb der vorgegebenen Hilfsfrist von 15 Minuten ein. Die Werte hätten sich verbessert, sagte Innenminister Thomas Strobl (CDU), obwohl sich die Zahl der Einsätze der Rettungswagen in den vergangenen fünf Jahren von 909 000 auf 1,06 Millionen im Jahr 2016 erhöht habe. Strobl betonte aber, ein Unterschreiten der Werte bedeute nicht, dass der Patient schlecht versorgt sei.
Doch dem ADAC geht es um mehr: zuerst um Tempo bis zum Eintreffen des Notarztes und dann den Transport des Patienten zur richtigen (Spezial-)Klinik. Es sei nicht einzusehen, warum Stadtbewohner, zu denen ein Notarzt nur wenige Minuten Anfahrzeit benötigt, bessere Chancen aufs Überleben nach einem Unfall oder einem schweren internistischen Notfall wie einem Herzinfarkt haben sollen, sagt LuftrettungGeschäftsführer Bruder: „Wer auf dem Land lebt, muss die gleichen Chancen haben.“Der Ärztemangel führe besonders im ländlichen Raum zu Engpässen im Rettungsdienst. Auch durch den demografischen Wandel steigen die Rettungseinsätze. „Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, sagt Bruder. Wenn heute bundesweit die ADAC-Lebensretter tagsüber im Durchschnitt etwa alle fünf Minuten zu einem Einsatz abheben, dann sei gerade in ländlichen Regionen wie der Schwäbischen Alb der Rettungshubschrauber oftmals der schnellste und einzige Weg, den Notarzt zeitgerecht zum Patienten zu bringen und ihn schonend in eine geeignete Klinik zu transportieren.
Eduard Kehrberger, Landeschef der AG Südwestdeutscher Notärzte, sagt, dass ein Patient in lebensbedrohlichen Notlagen innerhalb einer Stunde auf dem Operationstisch liegen oder eine angemessene Behandlung bekommen sollte. Das ist zunehmend nur noch in dafür ausgestatteten Kliniken möglich. „Es geht nicht mehr darum, ins nächste Krankenhaus zu kommen, sondern ins richtige – gerade bei Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Polytraumata.“
In den vergangenen Jahren haben sich die Gründe für den Einsatz der Rettungshubschrauber geändert: Standen in den Anfangsjahren schwere Unfälle in der Statistik weit vorne, so handelt es sich heute in rund 53 Prozent der Fälle um internistische Notfälle wie akute Herzund
Frédéric Bruder, Geschäftsführer der ADAC Luftrettung
Kreislauferkrankungen. Es folgten neurologische Notfälle wie Schlaganfälle sowie Sport- und häusliche Unfälle (beide acht Prozent). Nur bei 13 Prozent der Einsätze flogen die ADAC-Helikopter zu einem Verkehrsunfall. Jeweils in sechs Prozent der Einsätze wurden die Luftretter wegen Kindernotfällen sowie Arbeitsoder Schulunfällen gerufen.
1629 Einsätze für Christoph 22
Nicht nur die Einsatzzahlen haben mit den Anfangsjahren nur noch wenig gemein: Die Zahl der versorgten Patienten stieg 2017 bundesweit leicht auf rund 49 000. Davon mussten rund 13 000 mit dem Rettungshubschrauber in eine Klinik gebracht werden. Ein Blick auf die Station Ulm: 600 oder 700 Flüge pro Jahr wurden zu Beginn der 1980er-Jahre verzeichnet, 1629 Einsätze waren es dagegen 2017. Dies ist der zweithöchste Wert in der Geschichte des Luftrettungsstandorts Ulm.
Doch nachts müssen die meisten Rettungshubschrauber am Boden bleiben, in den meisten Städten und Gemeinden werden sie nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang eingesetzt. Wer davor oder danach in Lebensgefahr ist, dem kann aus der Luft oft nicht geholfen werden.
In Baden-Württemberg, vor allem an der Grenze zur Schweiz, kommen daher nachts Rettungshubschrauber aus Bayern oder der Schweiz zum Einsatz, allein die Schweizer waren 2017 mehr als 1100-mal im Süden des Landes im Einsatz, darunter waren auch Nachtflüge. In Bayern sind seit 1999 nächtliche Rettungseinsätze möglich, in Baden-Württemberg erst seit Herbst 2017. Notärzte, Rettungsdienste und die Oppositionsparteien fordern, mindestens einen weiteren Stützpunkt zu eröffnen. In VillingenSchwenningen betreibt die DRF Luftrettung seit 2017 den einzigen Rettungsstützpunkt im Land, von dem auch nachts ein Hubschrauber abhebt. Erlaubt sind 1,3 Starts pro Nacht – aus Lärmschutzgründen. Alle übrigen der acht Maschinen fliegen nur von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, plus etwa eine halbe Stunde.
CDU-Innenminister Thomas Strobl will im Oktober ein Gutachten in Auftrag geben, angekündigt hatte er es schon im Februar. Es soll die Situation in der Luftrettung von BadenWürttemberg analysieren. Ob es Bedarf für weitere 24-Stunden-Stützpunkte gibt, wird sich ebenfalls herausstellen. Dem Vernehmen nach sind sich die Beteiligten einig, dass wohl mindestens ein weiterer Stützpunkt Sinn macht. Im Gespräch sind Stuttgart und Ulm.
Der ADAC will nicht auf die Politik warten, sondern jetzt schon die Nacht zum Tage machen: „Mit Notfalleinsätzen in der Nacht schlagen wir ein neues Kapitel des Rettungsdienstes aus der Luft auf“, sagt Frédéric Bruder, der Geschäftsführer der Luftrettung. „Damit verbessert sich, unabhängig von Wohnort und Uhrzeit, die notärztliche Versorgung in der Region deutlich.“Bruder plädiert für eine Ausdehnung der Betriebszeiten und damit deutlich mehr Flüge in der Dämmerung. Denn: „In viel zu vielen Regionen in Deutschland entschieden immer noch die Uhrzeit und der Wohnort über die schnelle lebensrettende Hilfe aus der Luft.“
Und die Luftretter schaffen die technischen Voraussetzungen: In Senftenberg in Brandenburg fliegen die Crews der bundesweit größten ADAC-Luftrettungsstation seit ein paar Wochen mit speziellen Nachtsichtbrillen auch nach Sonnenuntergang zu Notfalleinsätzen in unbekanntem Gelände. Die Brillen sind Teil eines hochmodernen Night-VisionImaging-Systems. „Es ermöglicht den Piloten auch bei minimalen Lichtverhältnissen auf unbeleuchteten Plätzen zu landen, um Notfallpatienten zu versorgen“, erklärt ein Sprecher der Luftrettung. Bisher wurden solche Spezialbrillen bei der ADAC-Luftrettung nur bei sogenannten Sekundäreinsätzen, also Verlegungstransporten von Klinik zu (Spezial-)Klinik, eingesetzt. Nun werden sie dauerhaft auch bei den deutlich schwierigeren Notfalleinsätzen des ADAC Intensivtransporthubschraubers „Christoph Brandenburg“verwendet.
Bei so einem Notfalleinsatz wird der komplette Landeanflug an einem unbeleuchteten Landeplatz in der Nähe des Notfallortes mit Nachtsichtbrillen
Eduard Kehrberger, Landeschef der AG Südwestdeutscher Notärzte
durchgeführt. Die rund 11 000 Euro teuren Brillen funktionieren nach dem Prinzip der Restlichtverstärkung und bilden mit dem Cockpit und dem Helm ein aufeinander abgestimmtes Nachtflugsystem. So können Piloten auch bei minimalen Lichtverhältnissen an Unfallorten landen, deren Geländebesonderheiten mit bloßem Auge und Scheinwerferlicht nicht erkennbar sind und wo Landungen dementsprechend zu gefährlich wären.
Satellitengestützte Navigation
Am Standort Ulm wären Nachtflüge möglich: Ende Mai wurde ein neues Hubschraubermodell vorgestellt, ein Airbus H145, der mit speziellen Nachtsichtgeräten ausgestattet ist. Die medizinische Ausstattung mit drehbaren Sitzen und einem flexiblen Schienensystem an der Decke zur Befestigung der medizinischen Geräte erleichtert die Patientenversorgung. Im modernen Glascockpit hat der Pilot sämtliche Überwachungssysteme im Blick. Verbessert wurde zudem die satellitengestützte Navigation. Sie ermöglicht es zum Beispiel, ohne Sicht in den Wolken zu fliegen.
Doch die Ulmer Crew muss derzeit nachts noch am Boden bleiben. Wann die Ergebnisse des vom Stuttgarter Innenminister geplanten Gutachtens „unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und einsatztaktischer Möglichkeiten“, wie es im Bürokratendeutsch heißt, mit „belastbaren Empfehlungen für eine vollständige Flächenabdeckung“vorliegen, ist unklar. Dazu äußerte sich das Ministerium am Dienstag nicht.
„Wer auf dem Land lebt, muss die gleichen Chancen haben.“
„Es geht darum, ins richtige Krankenhaus zu kommen.“