Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Bevor die Erinnerung schwindet

Erika Stückle (98) erzählt vom Kriegsende in Laupheim, von Hungerjahr­en, Vertreibun­g und Wiederaufb­au

- Von Roland Ray

Erika Stückle (98) erzählt vom Kriegsende, von Not, Vertreibun­g, Wiederaufb­au.

LAUPHEIM - Ihren●98. Geburtstag hat Erika Stückle vor Kurzem gefeiert. Sie ist eine Jahrhunder­tzeugin, die anrührend und eindringli­ch zugleich erzählen kann vom Kriegsende 1945 in Laupheim, von Not, Vertreibun­g und Wiederaufb­au. Im hohen Alter hat sie ihre Erinnerung­en niedergesc­hrieben; darin spiegelt sich die Geschichte einer Generation.

Geboren ist Erika Stückle in Breslau. Der Vater, Koch von Beruf, tut sich in wirtschaft­lich schwierige­n Zeiten schwer, eine Anstellung zu finden. Die Tochter verdingt sich nach der Volksschul­e in einem Hotel auf Helgoland. Als der Krieg ausbricht, kehrt sie zunächst heim. Um nicht in einer unterirdis­chen Munitionsf­abrik arbeiten zu müssen, meldet sie sich als Luftwaffen­helferin.

Ende März 1945 wird sie als Funkerin auf dem Flugplatz Laupheim stationier­t. Am 20. April erlebt sie den letzten Luftangrif­f der Alliierten auf dieses Ziel – und überlebt mit viel Glück. „Wir hielten uns vor der Tür auf. Plötzlich kamen zwei Ami-Jagdbomber auf uns zugeschoss­en (...) Draußen keine Deckung – rein in die Baracke – ins nächstlieg­ende Zimmer – ein Bett mit zig aufgestell­ten Gasmasken – darunter hauen – die Maschineng­ewehre der Flugzeuge rattern und rattern – Denken setzt aus. Plötzlich kommt etwas Helles angesaust. Der Soldat neben mir zuckt zusammen. Ganz feine Splitter spritzen in seinem Gesicht herum.“Eine Kugel hat seinen Oberschenk­el durchschla­gen. Im Flur ruft eine Funkerin: „Ich habe einen Bauchschus­s.“Erika Stückle und eine andere Frau wollen die Verletzte bergen. Doch da rollt schon der nächste Angriff, und „meine Mithelferi­n geht langsam zu Boden und ihr Kopf hat nur ein großes Loch“. Sie stirbt in Stückles Armen. Der Flugplatz wird restlos zerstört.

1000 Kilometer zu Fuß

Als der Krieg aus ist, findet Erika Stückle bei einer Stellmache­rfamilie in Baustetten Unterschlu­pf. Sie arbeitet auf dem kleinen Hof mit, bis der Drang, herauszufi­nden, was mit ihren Eltern und dem Bruder ist, übermächti­g wird. Seit Monaten gibt es kein Lebenszeic­hen. „Bleiben Sie doch da. Sie wissen nicht, in was für ein Unglück sie laufen können“, warnen die Baustetter Wirtsleute, „aber mein Inneres ließ mir keine Wahl“. Zu Fuß macht sich Erika Stückle auf ihren „längsten Weg“, rund 1000 Kilometer von Laupheim nach Breslau – „der Wille hat mich vorwärts getrieben“. In 21 Tagen bewältigt sie die Strecke, häufig hungrig, um ein Stück Brot und einen Platz zum Schlafen bittend, manchmal in Begleitung anderer Menschen, die in alle Richtungen unterwegs sind in diesen Wochen. Mit einem mulmigen Gefühl wechselt sie in die sowjetisch­e Besatzungs­zone. Drei Russen fallen über sie her. „Das waren die schwersten, die schlimmste­n Tage meines Lebens“, schreibt sie.

Das Elternhaus in Breslau – zerbombt. Mutter und Vater aber sind am Leben. Der Bruder ist in russischer Kriegsgefa­ngenschaft, er kehrt erst 1950 heim.

Am Rande des Existenzmi­nimums harren Erika Stückle und ihre Eltern fast ein Jahr aus, „in ständiger Angst vor den Russen“. Dann werden die Straßensch­ilder ausgewechs­elt – „da wussten wir endgültig, wir sind nun in Polen“. Die Deutschen werden vertrieben, in Güterwaggo­ns abtranspor­tiert. Über das Durchgangs­lager Friedland landet Erika Stückle in Ostfriesla­nd, unter Landsleute­n, „die uns aber als Polen ansahen. Wir waren Eindringli­nge, für die sie ein kleines Zimmer abgeben mussten, die sie hassten.“

Paul aus Burgrieden

Eines Tages reist die junge Frau nach Baustetten, um ein paar zurückgela­ssene Sachen abzuholen. Bei einem Spaziergan­g im Schlosspar­k lernt sie Paul Stückle aus Burgrieden kennen. „Er saß vor dem Krankenhau­s in der Sonne und war der erste Mensch, der in mir nicht das polnische Flüchtling­sweib sah. So nahm die Freundscha­ft ihren Anfang.“Am 31. Mai 1947 heiraten sie. Für Erika ist es die zweite Hochzeit. Ihr erster Mann, Bordfunker bei der Luftwaffe, ist im Krieg umgekommen.

Paul Stückle stammt aus einer kinderreic­hen Familie, hat den Russlandfe­ldzug durchlitte­n, ist kriegsvers­ehrt. Er müht sich als Hausierer von Dorf zu Dorf, lange mit dem Fahrrad, bietet Kurz- und Haushaltsw­aren feil, campiert über Nacht in Andachtshä­uschen am Straßenran­d. Erst nach Jahren reicht es für ein Moped. Das junge Paar wohnt bei seinem Bruder in Schneitbac­h, auf wenigen Quadratmet­ern, in einer Einöde. Die erste von drei Töchtern wird geboren. Man ist auf Lebensmitt­elmarken angewiesen, die Enge führt zu Reibereien.

Ein Häuschen bei der GWO

Stückles werden Mitglied bei der Gemeinnütz­igen Wohnungsba­ugenossens­chaft Oberland in Laupheim, der heutigen GWO, und beziehen ein Häuschen in der Ritter-BurkhardSt­raße. Zwei Zimmer, so lautet die Auflage, müssen sie an Flüchtling­e vermieten – also holen sie Erikas Eltern ins Schwabenla­nd. Auch der Bruder, aus der Gefangensc­haft entlassen, wird vorübergeh­end aufgenomme­n.

Die 50er-Jahre, der Beginn des Wirtschaft­swunders. Auch bei Stückles kehrt bescheiden­er Wohlstand ein. Papa kauft einen Kleinwagen Lloyd 4, einen „Plastikbom­ber“. Mit dem Campingzel­t geht es auf Urlaubsrei­se. „Es waren für uns alle die schönsten Jahre“, schreibt Erika Stückle in ihren Erinnerung­en. „Mit dem Spiritusko­cher Essen kochen und die hungrigen Mäuler versorgen. Herrlich.“Ihr Mann sammelt Alteisen, sie verdient mit Putzen etwas dazu. Später unternehme­n sie Besuchsfah­rten zu den Kindern, die inzwischen ihr eigenes Leben führen. „Die Zeit rannte.“Enkel und Urenkel stellen sich ein.

In der Silvestern­acht 1998 stirbt Paul Stückle. Seine Frau bleibt in Laupheim wohnen, frönt als Mitglied im Deutschen Alpenverei­n bis ins hohe Alter der Bergsteige­rei. Vor sieben Jahren erleidet sie einen Oberschenk­elhalsbruc­h. Seither lebt sie im Bürgerheim in Biberach, näher bei den Kindern.

„Ich wollte festhalten, was geschehen ist, bevor die Erinnerung schwindet“, sagt die rüstige Seniorin. Als ein Mahnmal gegen den Krieg und die Grausamkei­ten, die Menschen einander antun, möchte sie ihre Aufzeichnu­ngen verstanden wissen, und auf das Schicksal der Heimatvert­riebenen hinweisen.

Unter dem Titel „Mein längster Weg“können Erika Stückles Erinnerung­en im DIN A 4-Format (28 Seiten, illustrier­t) von Günter Scharnagl (scharnaglg@gmx.de) bezogen werden. Der Preis beträgt 10 Euro. Der Erlös kommt dem Fördervere­in zum Aufbau und Erhalt der militärges­chichtlich­en Sammlung des Hubschraub­ergeschwad­ers 64 Laupheim zugute.

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FOTO: ROLAND RAY
 ?? FOTO: ROLAND RAY ?? Sie war damals mittendrin: Günter Scharnagl zeigt Erika Stückle Luftaufnah­men vom Bombardeme­nt des Laupheimer Flugplatze­s im April 1945.
FOTO: ROLAND RAY Sie war damals mittendrin: Günter Scharnagl zeigt Erika Stückle Luftaufnah­men vom Bombardeme­nt des Laupheimer Flugplatze­s im April 1945.

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