Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Eine Salemerin in Herisau
Zum Schicksal einer Kirchenglocke am Bodensee nach der Säkularisation
Erreicht man nach vielen steilen Treppenstufen die Glockenstube im Turm der Evangelisch-reformierten Kirche von Herisau, begrüßt einen erstaunlicherweise ein Papst. Ein Bild von Benedikt XIV. schmückt die große Glocke. Zusammen mit der Jahreszahl 1756 und dem Wappen der ehemaligen Reichsabtei Salem ergibt sich die Herkunft der
Glocke: das bedeutende
Zisterzienserkloster
Salem im
Linzgau. Ende Juli 1807 wurde die
Glocke ins
Appenzellerland gebracht. Neueste Berechnungen ergaben, dass sie ein Gewicht von 9,12 Tonnen hat. Sie ist damit die zweitschwerste in der Schweiz.
„Ihr Klang hat eine unverwechselbare Fülle, ihr Nachhall ist machtvoll, aber nicht erdrückend, sie klingt selbstbewusst, voll ernster Zuversicht, ist singfreudig und lebendig.“Der Experte Hans Jürg Gnehm ist begeistert von der großen Glocke in Herisau mit dem Schlagton „ges0“. Sie bildete einst das Fundament des sogenannten Glockenhimmels von Salem. Das zwischen 1754 und 1758 von Franz Anton Grieshaber und Johann Georg Scheichel gegossene Geläut mit seinen sechzehn Glocken galt als das größte der Barockzeit. Abgerundet wurde das Salemer Klangwerk durch vier neue Orgeln mit insgesamt 7223 Pfeifen.
Die große Glocke gilt als Grieshabers Hauptwerk. Die Model für die ungewöhnlich üppigen Verzierungen stammen vom bedeutenden Bildhauer Joseph Anton Feuchtmayer. Neben Putten, Rocaillen, Pflanzenornamenten und Inschriften umfassen sie vier große Schilde: die Geburt des Jesuskindes; die Kreuzigung Jesu Christi; das Symbol der Dreifaltigkeit; der über den Wappen der Abtei und des Abtes von Salem sitzende Papst Benedikt XIV.
Für 8000 Gulden in die Schweiz
Die Reichsabtei Salem wurde 1802 aufgehoben, der Mönchskonvent 1804. Die enormen Einkünfte und Vermögenswerte fielen an die Markgrafen von Baden. Um die drückenden Kriegslasten zu tilgen, veräußerten sie zahlreiche Kirchenschätze. So gingen die Bibliothek an die Universität Heidelberg, zwei Orgeln nach Winterthur und Konstanz und fünf Glocken in die Schweiz: nach Herisau, Straubenzell und Wollerau. Von den Verkaufsabsichten erfuhr auch Landeshauptmann Johannes Preisig in Herisau. Er schlug dem Gemeinderat am 15. Juni 1807 den Erwerb der großen Glocke vor. Nach einer Überprüfung des Glockenstuhls wurde er zusammen mit Mechaniker Sonderegger und Zimmermeister Nef zu einer Begutachtung nach Salem delegiert. Sie waren beeindruckt und handelten einen Preis von 8000 Gulden aus. Innerhalb von zwei Wochen kam dieser Betrag in Herisau durch Spenden zusammen.
Mitte Juli begab sich Preisig erneut nach Salem, um das Geschäft abzuwickeln. Den Transport vom Kloster bis zum Bodensee übertrug er dem Verwalter von Schloss Maurach. Dieser ließ den notwenigen Spezialwagen herstellen. Die Seeüberquerung nach Rorschach übernahmen die Schiffleute von Oberuhldingen, den anschließenden Landtransport Oberbleicher Hans Jakob Tanner aus Herisau. Bankier Daniel Girtanner beschrieb den außergewöhnlichen Transport durch die Stadt St. Gallen so: „Soeben führt man vor meinen Fenstern eine Glocke, über 160 Zentner schwer und von 20 Pferden gezogen, nach Herisau. Der Boden seufzt unter ihrem Gewicht entsetzlich.“
Die Glocke traf am 1. August um die Mittagszeit in Herisau ein. Dem Hofzahlmeister von Salem wurde danach ein feines Baumwolltuch zugesandt. Nach der Vollendung des neuen Glockenstuhls erfolgte am 3. November vor großem Publikum der Glockenaufzug mittels dreier Flaschenzüge. Er dauerte ganze acht Minuten. Den alten Stuhl erwarb die Nachbargemeinde Straubenzell für ihre zwei neuen, ebenfalls in Salem gekauften Glocken.
Der internationale BodenseeGeschichtsverein feiert in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass erscheint Ende Oktober ein Jubiläumsband, dem der vorstehende Beitrag entnommen ist: Harald Derschka/Jürgen Klöckler (Hg.): Der Bodensee. Natur und Geschichte aus 150 Perspektiven. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2018, 25 Euro.