Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Horror in Echtzeit
„Utøya 22. Juli“– Zwiespältige Rekonstruktion des Terroraktes auf der norwegischen Insel
Das werdet ihr nie verstehen, hört mir einfach zu.“Am Anfang spricht sie zu uns, direkt in die Kamera. Ein junges Mädchen, sie heißt Kaja (Andrea Berntzen), ist 18 Jahre alt, und wir werden sie schnell als verantwortungsvoll und fürsorglich kennenlernen.
Zuvor haben wir Dokumentaraufnahmen von jenen Sekunden gesehen, als an jenem fatalen 22. Juli 2011 in Oslo eine schwere Bombe gezündet wurde. Eine Inschrift informiert: „Utøya, 17:06 Uhr.“Die nächsten zehn Minuten beobachtet man das normale Leben eines Feriencamps. Man lernt Kaja besser kennen, ihre Schwester, und einige der anderen Jugendlichen.
Aber alles steht selbstverständlich ganz im Zeichen des Kommenden. Unschuld und Normalität sind vorgespielt. Denn „Utøya 22.Juli“bezieht sich auf einen der schlimmsten Terrorakte der europäischen Geschichte: auf den Massenmord an 69 Jugendlichen auf der Ferieninsel Utøya durch den Einzeltäter Anders Brevink. Man weiß also, was kommen muss. Die Aussage eines Jugendlichen in den Minuten vor Beginn des Massakers, nachdem die ersten Nachrichten von dem Anschlag in Oslo die Insel erreichen – „Wir sind auf einer Insel, der sicherste Ort der Welt“– wirken angesichts des Geschehens wie ein sarkastischer Witz.
So arbeitet dieser Film: Er spielt mit unserem Vorwissen, zeigt uns zukünftige Opfer; er wiegt uns in der Überlegenheit dieses Vorwissens, lässt aber keine Freiheit zu. Denn der Film will ja eine exakte Nachstellung sein, sekundengenau dem tatsächlichen Geschehen entsprechend. Von dem Augenblick, an dem nach genau 17 Minuten der Attentäter die ersten Schüsse abgibt, erzählt Regisseur Erik Poppe die nächsten 72 Minuten, so lange wie das Morden dauerte, in einer einzigen langen Einstellung.
Eine taumelnde Kamera
Die Kamera bleibt an der Seite von Kaja, rennt mit ihr zunächst in den Wald, duckt und presst sich an den Boden, tröstet panische Leidensgenossen, kümmert sich um Verletzte und Sterbende, blickt sich immer wieder nach Schützen um, und flieht, flieht, flieht ...
Lange Einstellungen und eine taumelnde, bewegte Kamera entwickeln einen einzigartigen Sog. Doch zugleich vermittelt die rastlose, hautnahe Kamera eine paradoxe Erfahrung: Sie distanziert. Wir Zuschauer lernen in diesem Film, dass Erfahrungen eben nicht eins zu eins rekonstruierbar sind. Dass man Gefühle nicht zu hundert Prozent abbilden und imitieren kann. Man kann als Zuschauer eben nicht Todesangst nachempfinden, nicht nachfühlen, was es tatsächlich bedeutet, einem Terrorakt ausgesetzt zu sein.
Darum sind die eindrücklichsten Momente nicht jene, in denen Kaja panisch und verzweifelt ist, sondern jene, in denen sie anderen hilft, gut zuredet, Trost spendet. Da fühlt man mit dieser Figur, die im Übrigen kein Vorbild in der Wirklichkeit hat.