Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Flucht mit Taft und Seide
Michael Bully Herbigs neuer Film „Ballon“gibt Nachhilfe in DDR-Geschichte
Die Geschichte ist ausrecherchiert. So nennen Journalisten das, wenn von einem Ereignis auch das kleinste Detail bekannt ist. Wie bei der Flucht der DDR-Familien Strelzyk und Wetzel über den Frankenwald am 16. September 1979. Ihre Fluchthilfe war ein Heißluftballon, den sie selber gebaut hatten. Gestartet sind sie in Thüringen, angekommen in Oberfranken, eine halbe Stunde später.
Von der abenteuerlichen halben Stunde und dem langen Weg dorthin haben sie immer wieder berichtet – in Zeitungen und Büchern, in Film und Fernsehen, vom Lokalsender bis zur Talkshow. Für den neuen Film von Michael Bully Herbig haben sie einen Beratervertrag geschlossen, damit das kleinste Detail stimmt: Strelzyks und Wetzels haben alles zusammengekauft und zusammengenäht, was sie kriegen konnten: Regenschirmseide, Zeltstoff, Taft und Betteninlets, und alles in Mengen, die keinen Verdacht erregen durften. Damit die Stasi die „Republikflucht“nicht vereitelt und die Familien zerstört.
Große Verzweiflung
Die Geschichte hat das Zeug für einen Kinofilm: das Spektakel, die Vorbereitung, vor allem aber die Verzweiflung an den Verhältnissen in der DDR, die man im Westen selbstgefällig als Freiheitswillen auslegen konnte. Mit der Stasi gibt es den übermächtigsten Gegner. Und die Familien waren auf schieres Glück angewiesen, was für Spannung sorgt: Denn über Erfolg oder Katastrophe entschieden Wind und Wetter.
Kein Wunder also, dass ein solcher Film bereits 1982 in die Kinos kam, als das Ereignis noch im allgemeinen Bewusstsein war: „Mit dem Wind in den Westen“(Regie: Delbert Mann). Dass es sich um eine amerikanische Produktion handelte, dazu noch des Disney-Konzerns, hat ihr in der Bundesrepublik Häme eingebracht. „Wie Mick, Tick und Trick sich die Ostzone vorstellen“, titelte „Der Spiegel“. Schließlich fühlte sich West-Deutschland als Weltmeister unter Ostexperten.
Der Film über die Flucht passte nicht in das damals angesagte politische Programm vom „Wandel durch Annäherung“. Denn die Story funktionierte über die Lebensumstände in der DDR. Die erst machten verständlich, warum derartige Aufwendungen nötig waren, um dem Land zu entkommen. Und so wurde die US-Produktion bei den Filmfestspielen in Berlin ausgebremst. Axel Springer hat dann dafür gesorgt, dass sie außerhalb der Berlinale-Kinos doch zu sehen war.
Was Bully Herbig nun umtreibt, diese Geschichte haarklein noch einmal zu erzählen, wird zunächst nicht klar, wenn man den Film sieht. Seine größte Trapez-Nummer musste er ohnehin vorab aufführen: Er musste von Disney Verwertungsrechte bekommen.
Ihm ist ein schöner Film gelungen, vor allem handwerklich. Es gibt eine Kamera (Torsten Breuer) statt digitaler Filmschnipsel, die Ausstattung sorgt für DDR-Tristesse in Braun und Grau, gelegentlich blitzt ein frisches FDJ-Blau auf. Zweitakter werden bewegt. Der Ballon wurde nachgebaut, um einem von Computeranimationen übersättigten Publikum etwas Habhaftes vorzusetzen. Und dann noch die durchlaufende Filmmusik von Herbigs Hausmusiker Ralf Wengenmayr, ein pulsierendes Bassgrollen, ein Requiem auf ein aussichtsloses Leben.
Dazu kommt eine altmeisterliche Erzählhaltung und eine stimmige Besetzung: Karoline Schuch und Alicia von Rittberg als Mütter, Friedrich Mücke und David Kross als Väter und Thomas Kretschmann als Gegenspieler bei der Stasi.
Authentische DDR-Kulisse
Der Film hat drei Teile, die unterschiedlich gelingen: eine anrührende Skizze der DDR-Verhältnisse, Flucht und Schluss. Der ist schlicht ideenlos. Der Fluchtteil wird als Träger der Spannung zum Wettrennen frisiert: Sind die Flüchtenden schneller oder die Stasi, die ihnen auf den Fersen ist? Das DDR-Tableau am Beginn hingegen ist mit feinem Sinn für die Zynismen des SED-Staates eingefangen, eigenständig und kitschfrei.
Für die Filmbranche ist das so auffällig wie ungewöhnlich. Denn die sucht bei diesen Thema gerne die Nestwärme von Folklore und Nostalgie. Herbig dankt im Abspann Leander Haussmann für die Beratung in Sachen DDR-Verhältnisse. Der sorgt für Authentizität bis zum letzten Schnäuzer und Straßenplakat: „Sozialismus – das ist Menschlichkeit in Wort und Tat“. Mit diesem Film will Herbig tatsächlich Nachhilfe erteilen: „Es gibt eine junge Generation, die 30 Jahre nach dem Mauerfall kaum noch etwas über die DDR weiß – und wissen will.“
Die Umstände der Produktion zeigen, dass in der Zwischenzeit eine Umkehrung der äußeren Verhältnisse stattgefunden hat. Pößneck in Thüringen, wo die Wetzels und Strelzyks vor der Flucht lebten, geht heute nicht mehr als DDR-Kulisse durch. Die glaubhafte DDR liegt heute im Westen, im ehemaligen Zonenrandgebiet, wo die Zeit festgefroren ist, die Häuser und die Läden leer stehen. Herbig hat für seinen Film die DDR nicht da gedreht, wo die Flucht begann, sondern dort, wo sie endete: in Oberfranken.
Über die Oberfranken macht er auch den einzigen Witz. Und schummelt auch ein bisschen. Als der Ballon im Wald gelandet war, wussten die Familien noch nicht, ob sie es über die Grenze geschafft hatten. Es war Nacht. Im Film treffen sie auf einen Streifenwagen und fragen: „Sind wir im Westen?“Die Film-Antwort: „Nein! (Pause) In Oberfranken!“
Auch im richtigen Leben waren die Familienväter auf die überraschte Polizeistreife getroffen. Aber da wussten sie schon, wo sie sind. Ihr Ballon kam in einer schwach besiedelten Gegend an, wo die Ortsnamen auf -grün enden: Froschgrün, Christusgrün, Marxgrün. Sie waren in Dreigrün gelandet. Da gibt es vier Häuser. Sie schauten in eine Scheune und sahen dort, wie sich Günter Wetzel erinnert, „so einen Mistwender“, da stand der Name des Landmaschinenherstellers Fendt drauf: „Und Fendt ist Westen.“
Ballon. Regie: Michael Bully Herbig. Mit Friedrich Mücke, Karoline Schuch, David Kross, Alicia von Rittberg, Thomas Kretschmann. Deutschland 2018, 120 Minuten, keine Altersbeschränkung