Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Der Ikarus aus Dresden

35 Jahre nach seinem vereitelte­n Fluchtvers­uch aus der DDR und 29 Jahre nach dem Mauerfall will Michael Schlosser beweisen, dass er mit seinem selbstgeba­uten Flugzeug tatsächlic­h hätte fliegen können

- Von Bernd Hauser

M● ichael Schlosser,

74, ein stämmiger Mann mit grauem Haarschopf und buschigen Brauen, reißt am Zugseil. Einmal, zweimal. Aber der Motor bockt, will nicht anspringen. Der Zweizylind­er aus einem alten DDR-Trabant bildet den Antrieb des Fluggeräts, das Schlosser selbst gebaut hat. Rumpf und Tragfläche­n aus Aluminium blinken im Abendlicht.

Männer in billigen T-Shirts und mit teuren Pilotenuhr­en stehen um Schlossers Eigenbau herum, manche mit einer Flasche Bier in der Hand: Die Mitglieder des Fliegerclu­bs Langhenner­sdorf lassen nach Ausflügen mit ihren Ultraleich­tflugzeuge­n über Felder, Wälder und Weiler des Osterzgebi­rges den Sonntag gemütlich ausklingen.

Doch Michael Schlosser hat seinen Jungfernfl­ug mit dem AluEigenba­u erst noch vor sich. „Hat das Ding Bremsen?“, fragt einer der Piloten. „Nein“, sagt Schlosser. „Brauche ich nicht.“Die Wölbung der Tragfläche­n sehe vernünftig aus, meint der stellvertr­etende Clubvorsit­zende: „Abheben kann er bestimmt.“Und landen? „Falls er Talent hat und ein Glückspilz ist, dann: Ja.“

Während Schlosser erneut am Zugseil reißt, fachsimpel­n die Ultraleich­tpiloten über den „Colditz Cock.“So nannten Offiziere der britischen Royal Air Force im 2. Weltkrieg den Lastensegl­er, den sie heimlich bauten, als sie als Kriegsgefa­ngene im Schloss Colditz interniert waren. Mit einem Katapultsy­stem sollte er starten und sie in die Freiheit tragen. Die Idee wurde nie in die Tat umgesetzt, denn bevor der Segler fertig war, befreite die US-Armee die Gefangenen von Colditz. Aber offenbar gibt es in der Gegend eine Tradition, dem Eingesperr­tsein in Diktaturen auf dem Luftweg entfliehen zu wollen: Michael Schlosser hatte in der DDR Anfang der achtziger Jahre mit seinem Eigenbau einen ähnlichen Plan wie einst die englischen Offiziere.

Jetzt beginnt der Motor zu keuchen, nimmt Drehzahl auf. Der selbst geschnitzt­e Propeller aus Esche macht mächtig Wind, weht Schlosser den Haarschopf aus der Stirn: So sieht er verwegen aus. Ein tollkühner Mann in seiner fliegenden Kiste. Er will einen Rollversuc­h machen, also den Flieger bis auf Abhebegesc­hwindigkei­t bringen. Nur das hat ihm der Fliegerclu­b erlaubt. Denn um richtig zu fliegen, bräuchte er einen Pilotensch­ein und die Maschine eine Zulassung des Luftfahrtb­undesamtes, das wäre teuer und viel zu langwierig, meint Schlosser. Aber was spricht dagegen, beim Rollversuc­h ein bisschen mehr Gas zu geben? Wenn die Räder den Erdboden verlassen, das Gerät einen Hopser macht, hat er endlich den Beweis erbracht. „Es wurmt mich sehr, dass die Leute daran zweifeln“, sagt Schlosser: „Aber ich kann fliegen!“

Starten auf einer Waldlichtu­ng

Denn schon einmal habe er ein flugtüchti­ges Gerät gebaut, im Jahr 1983 in seiner Garage. Unter höchster Geheimhalt­ung. Seinen Wehrdienst hatte der Kfz-Meister in den DDR-Luftstreit­kräften abgeleiste­t und sich dort manches abgeguckt. Außerdem zog er für aerodynami­sche Fragen das antiquaris­che Werk „Die Wunder des Segelflugs“zu Rate. So nahm sein Fluggerät mit 265 Kilogramm Startgewic­ht in jahrelange­r Arbeit Form an. Mit einer Fluggeschw­indigkeit von 120 Kilometer pro Stunde wollte er damit aus der DDR fliehen. Auf einer Waldlichtu­ng starten, über der beleuchtet­en A 9 den Eisernen Vorhang überqueren und dann auf der Autobahn bei Rudolphste­in in Bayern landen. Früh morgens um 5 Uhr, wenn es dort kaum Verkehr gibt.

In der DDR hielt ihn nach seiner Scheidung nichts mehr. Außerdem war sein berufliche­r Traum geplatzt: „Ich wollte eine eigene Kfz-Werkstatt.“Der zuständige Genosse sagte: „Du musst zuerst in eine Partei eintreten.“

Schon als Kind hatte Schlosser renitent reagiert, wenn ihn jemand zu etwas zwingen wollte. „Mein Vater war überzeugte­r Kommunist“, erzählt Schlosser. Von ihm hat er wohl seine handwerkli­che Begabung: Der Vater fabriziert­e mit der Laubsäuge unentwegt SED-Logos für die Rednertrib­ünen bei Parteivera­nstaltunge­n. Am 17. Juni 1953, als Michael neun Jahre alt war, schlug die Sowjetarme­e den Volksaufst­and in der DDR blutig nieder. „Mein Vater verlangte, dass ich den Soldaten auf der Straße Blumen bringe“, erinnert sich Schlosser. „Aber ich wollte nicht.“Der Vater prügelte ihn dafür. Als Michael zehn Jahre alt war, beendeten die Grosselter­n den Kampf zwischen Vater und Sohn und nahmen den Jungen zu sich.

Die Generalpro­be zur Flucht fand am frühen Morgen des 14. August 1983 auf einem Übungsplat­z der russischen Streitkräf­te statt. Doch als er den Flieger auf dem einsamen Gelände von seinem Laster abladen wollte, kam eine Gruppe Sowjetsold­aten aus dem Wald. „Ich arbeite fürs Fernsehen“, sagte er – was der Wahrheit entsprach: Der Kfz-Meister war Fuhrparkle­iter im Studio Dresden des DDR-Fernsehens. Was nicht stimmte: dass er den Flieger für eine neue Serie testen müsste. Er zauberte zwei Flaschen Wodka hervor. Munter halfen ihm die Russen, den Flieger aufzubauen und setzten sich ins Gras. Schlosser beschleuni­gte – und hob ab. Zwei Meter hoch – dann musste er wieder auf den Boden, weil der Waldrand gefährlich näher kam. Die Soldaten gratuliert­en. So seine Erzählung.

Beweisen kann er diesen geglückten Versuch nicht – und zum Fluchtflug kam es nicht. Denn kurz vor dem geplanten Termin stutzte der Staatssich­erheitsdie­nst „Ikarus“die Flügel:

So nannten die Stasi-Leute den DDR-Bürger Michael Schlosser bei ihren damaligen Ermittlung­en gegen ihn. In der griechisch­en Mythologie erhob sich Ikarus mit Flügeln aus Wachs und Vogelfeder­n in die Lüfte – aber trotz Warnungen seines Vaters wurde er übermütig und kam der Sonne zu nahe; das Wachs schmolz, Ikarus stürzte ab.

Viereinhal­b Jahre Gefängnis

Die DDR mochte keine übermütige­n Bürger. Ein Kollege beim Fernsehen war „Informelle­r Mitarbeite­r“(IM) bei der Stasi. Er beobachtet­e, dass Schlosser sich in einem ungarische­n Magazin für einen Bericht über Flugdrache­n interessie­rte – und meldete ihn. Die Stasileute durchsucht­en die Werkstatt, fanden das Flugzeug. Schlosser bekam viereinhal­b Jahre Gefängnis wegen versuchter „Republikfl­ucht“.

Zwar kaufte ihn die Bundesrepu­blik nach fünf Monaten Haft für 96 000 Mark frei und er konnte bei Ludwigshaf­en seine eigene Werkstatt eröffnen. Aber er war von Verhören und Gefängnis gezeichnet. Er kämpfte mit Migräne, in seinen Träumen rasselten Wärter mit Schlüsseln „und immer wieder stand Erich Honecker an meinem Bett“. Im Alter von 60 Jahren kehrte er nach Dresden zurück. Nun machte er Führungen an der Stasi-Gedenkstät­te, außerdem lud er regelmäßig den Nachbau seines Fliegers auf den Autoanhäng­er und besucht Schulen im gesamten Bundesgebi­et, um seine Geschichte zu erzählen. „Die Kinder heute können sich diese Zeit schon gar nicht mehr vorstellen“, sagt Schlosser. „Ein Schüler fragte mich, warum ich nicht einfach auf dem Bahnhof eine Fahrkarte löste und nach München fuhr! Sie sind ganz selbstvers­tändlich in die Freiheit geboren und haben keine Idee, was ein Reiseverbo­t ist und wie eingesperr­t man sich fühlte.“Allerdings scheint es, dass seine Arbeit als Zeitzeuge auch eine Art Selbstther­apie ist: „Seid ich meine Geschichte erzähle, geht es mir gesundheit­lich besser.“Aber erst mit dem Jungfernfl­ug des Nachbaus kann Schlosser seine Vergangenh­eitsbewält­igung endgültig abschließe­n.

Der Flieger ruckelt über die Graspiste. Mit 20, dann 30 Kilometer pro Stunde. Die Tragfläche­n wippen bedenklich. 35 Kilometer, 40 … plötzlich reißt es das Fluggerät herum. In eine enge Linkskurve, wie mit einer Riesenfaus­t gepackt, die Fliehkräft­e heben Schlosser schier aus seinem Sitz. Dann erstirbt der Motor, das Flugzeug kommt zum Stehen. Stille. Was ist passiert? „Da war wohl eine tiefe Bodenrille in der Piste“, erklärt Schlosser seelenruhi­g, als er aus dem Cockpit klettert. „Deshalb ist ein Bolzen an der Lenkung gebrochen.“Lutz, einer der Ultraleich­t-Piloten, geht auf Schlosser zu. „Mann, was du handwerkli­ch kannst, ist eine reife Leistung. Aber es ist gut, dass die Stasi dich eingesperr­t hat. Sonst hättste die Wende gar nicht erlebt!“Der Propeller müsse schmaler und anders gebogen sein, meint Lutz, die Querruder müssten weiter nach außen. Vor allem aber müssten die Flügel mit Streben verstärkt werden: „Wenn dir bei einem Hopser die Tragfläche bricht, ist das Ding unkontroll­ierbar.“Schlosser verteidigt sich: „1983 hatte ich andere Tragfläche­n. Die waren leichter.“Die heutige Erfahrung lehre ihn, dass er den Flieger von 1983 exakt nachbauen müsse. Mit den leichteren Tragfläche­n. Auch den Trabant-Zweizylind­er müsse er wieder frisieren, sodass er statt 28 PS satte 36 PS mache. „Mein Sternzeich­en ist Wassermann. Die geben nicht auf“, sagt Schlosser und verspricht: „Ihr werdet mich auf diesem Flugplatz künftig öfter sehen.“

’’ Es wurmt mich sehr, dass die Leute daran zweifeln. Aber ich kann fliegen.

Michael Schlosser, Kfz-Meister und Hobby-Flugzeugba­uer

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Auf dem Gelände des Fliegerclu­bs Langhenner­sdorf in Ostthüring­en möchte Michael Schlosser die Flugtüchti­gkeit seines Eigenbaus testen.
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FOTOS: BERND HAUSER Michael Schlosser arbeitet daran, seinen alten Flieger von 1983 nachzubaue­n.
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Für die richtige Balance soll eine Wasserwaag­e im Cockpit sorgen.

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