Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Weißer Ring fordert Gewaltambulanzen
Weißer Ring fordert flächendeckenden Ausbau der Gewaltambulanzen im Land
STUTTGART (kab) - Baden-Württembergs Landesverband des Opferhilfevereins Weißer Ring fordert einen Ausbau von Gewaltambulanzen. „Ich erfahre jeden Tag, wie hilflos Frauen sind, die sexuelle Gewalt erfahren“, sagte der Landesvorsitzende Erwin Hetger. Damit Frauen nach einer solchen Tat überlegen können, was sie tun wollen, seien Kliniken notwendig, in denen Rechtsmediziner Spuren so sichern und archivieren, dass sie auch später noch vor Gericht als Beweise dienen.
STUTTGART - Mehr als 12 000 Baden-Württemberger sind 2017 von ihrem Partner oder Ex-Partner geschlagen, missbraucht, getötet worden. Die Mehrheit sind Frauen, jedes sechste Opfer ist ein Mann. Das Innenministerium geht von einer fünfmal höheren Dunkelziffer aus. Viele tun sich schwer, den Partner direkt anzuzeigen – aus Angst oder Scham, weiß Erwin Hetger, Landesvorsitzender des Opferhilfevereins Weißer Ring. Lange schon fordert er deshalb mehr Gewaltambulanzen im Land. Dort sollen Opfer ihre Verletzungen dokumentieren lassen können, ohne gleich Anzeige erstatten zu müssen. „Aber das Sozialministerium scheint sich zurückzulehnen“, sagt Hetger.
Am Sonntag ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. „Ich erfahre jeden Tag, wie hilflos Frauen sind, die sexuelle Gewalt, die häusliche Gewalt erfahren“, sagt Hetger. In dieser Situation seien viele überfordert mit der Frage, ob sie Anzeige erstatten wollen. „Den Entscheidungsdruck müssen wir den Frauen nehmen, damit sie sich in Ruhe überlegen können, was sie tun wollen.“Das Problem dabei: Spuren von Gewalt sind flüchtig. Werden sie nicht dokumentiert, steht vor Gericht Aussage gegen Aussage.
Einzige Ambulanz in Heidelberg
Seit 2011 gibt es die Gewaltambulanz am Universitätsklinikum Heidelberg. Rechtsmediziner sichern und archivieren Spuren von Gewalt, die auch später noch vor Gericht als Beweise dienen. „Die Fallzahlen gehen dieses Jahr wieder auf die 400 zu“, erläutert die Leiterin Kathrin Yen. Die Hälfte ihrer Patienten seien Frauen, ein Viertel Männer, ein Viertel Kinder – davon etwas mehr Mädchen als Jungs. Für seine Arbeit bekommt dieser bundesweite Leuchtturm 150 000 Euro vom Land. Laut Sozialministerium ist die Finanzierung auch für die nächsten Jahre gesichert. Das freut die Leiterin Kathrin Yen – auch wenn das Geld nicht reiche. Schließlich ist die Ambulanz rund um die Uhr, sieben Tage die Woche mit einem Rechtsmediziner und einem Assistenzarzt besetzt.
„Weiteste Teile von Baden-Württemberg sind in dieser Hinsicht gar nicht oder kaum versorgt“, sagt Yen über das niederschwellige Angebot ihrer Ambulanz. „Ich sehe den Bedarf nach einem flächendeckenden Ausbau ganz klar.“Das belegen aktuelle Zahlen des Sozialministeriums, die der „Schwäbischen Zeitung“vorliegen. Vor einem Ausbau wollte Minister Manfred Lucha (Grüne) wissen, welche Angebote es im Land gibt.
Das Ministerium hat dazu eine Umfrage unter den Kliniken im Land gestartet. 73 der 88 Krankenhäuser antworteten. In 31 davon können Opfer ihre Verletzungen dokumentieren lassen. Da bei den meisten dafür die Gynäkologie zuständig ist, richtet sich das Angebot vorwiegend an Frauen. Doch selbst dort, wo die Spurensicherung angeboten wird, gibt es Probleme. Das erste: Die Kliniken betreiben kaum Öffentlichkeitsarbeit, weil sie ihre Kosten für Materialien der Untersuchung und für die Archivierung nicht erstattet bekommen, wenn es nicht zur Anzeige kommt, so das Sozialministerium.
„Es ist nicht so, dass wir das bewusst verheimlichen“, sagt etwa Winfried Leiprecht, Sprecher der Oberschwabenklinik. Aber: „Es gibt keine Werbung dafür.“Eine anonyme Spurensicherung sei am Elisabethenkrankenhaus in Ravensburg möglich. Zuständig sei die Gynäkologie, daher richte sich das Angebot an Frauen und Kinder. „Wenn es dafür eine Finanzierung geben würde, wäre das nicht weniger als fair.“
Es gibt auch andere Beispiele. „Das Kostenthema spielt für uns keine Rolle“, sagt Karsten Gnauert, Chefarzt der Frauenklinik des Ostalb-Klinikums Aalen. Lange schon sichere seine Abteilung Spuren, er habe mit der Kriminalpolizei und dem Weißen Ring Standards für den Ostalbkreis zur Beweissicherung erstellt. Diese würden dann bei der Gerichtsmedizin in Ulm archiviert.
Spuren oft nicht gut dokumentiert
Das zweite Problem der Spurensicherung betrifft laut Experten die Qualität: Viele Beweise hielten vor Gericht nicht stand. Das bemängelt auch Hetger. „Den Qualitätsstandard, den Heidelberg bietet, können die anderen nicht bieten.“Ähnlich äußert sich Yen von der Gewaltambulanz. „Das, was erhoben und asserviert wird, reicht oft nicht für eine rechtssichere Beweisführung“, betont sie. Nur Rechtsmediziner könnten Spuren gerichtsfest sichern – und die gebe es nicht überall.
Gerade in finanziell guten Zeiten wie jetzt müsse das Land endlich das Angebot von Heidelberg auf das ganze Land ausdehnen, fordert Hetger. „Ich kann einer Frau in Konstanz nicht zumuten, sich in den Zug nach Heidelberg zu setzen“, sagt er. Zudem müsse das Angebot in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.
Das sehe Minister Lucha auch so, erklärt eine Sprecherin. „Das Ministerium beabsichtigt auf Grund der gewonnen Erkenntnisse abteilungsübergreifend eine Konzeption für den bedarfsgerechten Ausbau in Baden-Württemberg zu erarbeiten, mit dem Ziel, die notwendige ,Akutversorgung‘ der Betroffenen sowie die gerichtsfeste Sicherung der Spuren zu gewährleisten“, teilt sie mit. Wie schnell – das hänge auch vom Bund und von diversen Fachministerkonferenzen ab.