Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Das Glück der Jesiden ist grün und heiß
Wie der Bau von Gewächshäusern Flüchtlingen aus ihrem finanziellen und psychischen Tief geholfen hat
MAM RASHAN - Das Paradies stellt man sich irgendwie anders vor. Grün – ja, sicherlich. Aber doch nicht so heiß und schwül. Das hält doch kein Mensch aus! Dabei ist es bereits Herbst im Irak, die Sommerhitze mit Höchsttemperaturen von bis zu 50 Grad am Tag längst vorüber. Nach wenigen Sekunden zwischen großen Gurken- und kleinen Paprikastauden läuft ein Rinnsal von Schweiß den Rücken hinunter. Die hohe Luftfeuchtigkeit unter den Plastikplanen befördert die Transpiration aufs Trefflichste. Nichts wie raus hier.
Vor den sechs großen Gewächshäusern, die entlang einer dicht befahrenen Straße, zirka zwei Kilometer vom Camp Mam Rashan entfernt, gebaut wurden, steht eine Handvoll Männer. Jesiden mit erdverkrusteten, braun-grünlichen Fingern und Tüchern um den Hals. Sehnig, sonnenverbrannt – und hochzufrieden. Denn sie gehören zu den Familien, die via Losverfahren eines der Gewächshäuser, die von den Lesern der „Schwäbischen Zeitung“finanziert wurden, zugesprochen bekamen. Zwei Familien teilen sich ein Haus. So konnte immerhin 20 Familien geholfen werden.
„Ich bin sehr froh, dass wir so viel Glück hatten“, sagt Qahtan Khalil, der eigentlich englische Literatur studieren wollte, sein Studium aber aufgeben musste, weil kein Geld mehr da war. „Die Beschäftigung tut uns gut, und mit dem Verkaufserlös können wir jetzt unseren Lebensunterhalt finanzieren“, sagt der 28-Jährige, der seit drei Monaten verheiratet ist. Seine ganze Familie lebt nun vom Handel mit Gurken, Paprika, Auberginen und Zwiebeln, und es arbeiten alle mit: sein Vater, das Familienoberhaupt, genauso wie die Frauen und Kinder.
Anspruchsvoll wie Prinzessinnen
Dabei ist die Arbeit kein Zuckerschlecken – selbst wenn es weniger heiß und schwül ist. Kniend, gebückt, gestreckt betreiben die Männer aus dem Camp Mam Rashan Staudenpflege. Der eigene Rücken ächzt allein bei dem Gedanken daran, diese Arbeit eine Stunde lang machen zu müssen. Aber die kleinen grünen Gurken, die so hübsch glänzend am Zelteingang gestapelt liegen, sind anspruchsvoll wie Prinzessinnen. Sie erwarten von den Gärtnern hingebungsvolle Pflege: nicht nur Wasser und Wärme, sondern auch viel Arbeit – und den entsprechenden Dünger. Auf das Saatgut haben die Jesiden lange gewartet. „Es stammt aus den Niederlanden. Das war zwar teurer, aber mit den normalen Samen, die wir im Irak haben, würden wir in den Gewächshäusern keine gute Ernte erzielen“, sagt Khalil. Die Geduld und der harte Einsatz der Familien haben sich gelohnt: Die Gurken und auch das andere Gemüse sind bei den Händlern in der Region beliebt. Sie schätzen die hohe Qualität der Ware – und den grünen Daumen der Jesiden. Und sie bezahlen dafür einen entsprechend hohen Preis.
Die neue Erkenntnis, dass Gewächshäuser glücklich machen können, bestätigt sich auch im Camp Shekhan, das einige Kilometer von Mam Rashan entfernt liegt. Dort sind an einem Samstagnachmittag der 35-jährige Faruq Haido und der 30-jährige Kamiran Khadar am Werkeln und strahlen, als sie den Besuch aus Deutschland sehen. „Das Gewächshaus hat mein Leben verändert“, sagt Haido. Er kann nun für den Unterhalt seiner sechsköpfigen Familie aufkommen. „Vorher war ich arbeitslos und hatte kein Geld. Auch psychisch ging es mir nicht gut. Jetzt sorge ich wieder selbst für uns.“Auch eine Tagesstruktur hat er, wie sein Kollege Khadar, jahrelang vermisst. Jetzt haben sie wieder eine. Dann geht es rein zur Ernte ins Plastikhaus – dieses Mal ohne sengende Sonne und Schweißtropfen. Die kleinen Gurken frisch von der Staude sehen sehr appetitlich aus, und sie schmecken auch gut: knackig, saftig, lecker. „Aber nur, wenn man sie nicht wäscht“, sagt mit einem Lächeln im Gesicht Shairzid Thomas von der Caritas-Flüchtlingshilfe Essen, der den Bau der insgesamt zehn Gewächshäuser organisiert hat. Das muss wohl eine alte kurdische Volksweisheit sein.
Die Gewächshäuser – im Camp Shekhan sind sie tatsächlich der einzige Lichtblick weit und breit. Anders als in Mam Rashan wohnen die Menschen hier in Zelten. Die alten, zum Teil zerfetzten Zelte aus pakistanischer Fertigung werden zwar gerade durch stabilere und größere ersetzt, dennoch ist der Blick auf graue Planen mit blauem Eingang trostlos. Vor allem: Es gibt nichts in dem Camp, was den Bewohnern etwas Ablenkung bringen könnte. Nur Staub, grauer Betonboden, Ziegelsteine. Hier dauerhaft wohnen zu müssen? Kaum vorstellbar. Doch den Jesiden, die hierher geflohen sind, bleibt keine Alternative. An eine Rückkehr in ihre Heimat ist wegen der schlechten Sicherheitslage und der zerstörten Infrastruktur im Shingal-Distrikt nicht zu denken. Auch die Hoffnung, dass es dort nach der militärischen Niederlage des IS bald wieder aufwärts gehen könnte, hat sich zerschlagen. Der Wiederaufbau stockt, die ehemaligen Häuser der Jesiden bewohnen inzwischen sunnitische Iraker, und schiitische Milizen kontrollieren im Auftrag der Zentralregierung das Gebiet. Kein guter Mix für Menschen, die in den vergangenen Jahren schlimmste Gräueltaten erleben mussten.
„Die Gewächshäuser sind wie eine Brücke in ihre verlorene Heimat“, sagt Amer Abo, Leiter im Camp Sheikhan. Diese Einschätzung bestätigt auch Shairzid Thomas: „Bei den Gewächshäusern ist alles dabei: Beschäftigung, die Verbundenheit mit ihrer früheren Tätigkeit und die Verbundenheit mit den Böden und Pflanzen.“Im Shingal-Gebiet, aus dem die Jesiden im Jahr 2014 von der Terrormiliz „Islamischer Staat“vertrieben wurden, hatten viele Familien Häuser mit Garten – und nicht nur Gewächshäuser. Auch die Landwirtschaft spielte für die Jesiden, die seit Jahrhunderten zurückgezogen lebten, eine große Rolle. Viele waren Selbstversorger – mit traditioneller Rollenaufteilung: Die Männer waren für den Lebensunterhalt zuständig, die Frauen für das Haus. Mit dem Völkermord an den Jesiden hat dieses einfache, aber freie Leben ein jähes Ende genommen. Sie verloren von einem Tag auf den anderen alles, was ihnen lieb war. Ihre Heimat, ihre Familienangehörigen und natürlich ihr Hab und Gut. Immerhin: Der Ruf, gute Landwirte und Gärtner zu sein, ist den Jesiden geblieben. Und mit diesem Ruf können sich nun manche ihr Einkommen sichern.
Viele sind leer ausgegangen
Doch, auch das wissen alle Beteiligten: Dieses Glück wird nur von kurzer Dauer sein. Denn die Familien, die gerade mit Feuereifer eines der Gewächshäuser bewirtschaften, müssen es nach einem Jahr wieder abgeben – an die nächste Familie, deren Not groß ist. „Wir haben bei der Verlosung ohnehin nur die Ärmsten im Camp zugelassen“, erklärt Amer Abo. „Aber dennoch gingen sehr viele Familien leer aus.“
„Uns bricht das Herz, wenn wir wieder aus dem Gewächshaus raus müssen“, sagt Qahtan Khalil, der 28-jährige Gärtner in Mam Rashan. „Wir haben so hart dafür gearbeitet, um eine erste gute Ernte zu haben, und das soll schon bald wieder vorbei sein.“Wie sehr ihn dieser Gedanke trifft, ist ihm deutlich anzusehen, sein furchiges Gesicht wird in diesem Moment noch viel härter. Die Lösung des Problems liegt für ihn auf der Hand: Es müssten noch mehr Gewächshäuser gebaut werden, damit mehr Familien eine sinnvolle Beschäftigung und ein Einkommen haben. „Das wäre schon eine sehr große Hilfe für die Menschen im Camp und eine Investition in die Zukunft“, sagte Amer Abo. Platz wäre für insgesamt zehn weitere Gewächshäuser in beiden Camps. Auch die Wasserversorgung ist gesichert – die wird von der Verwaltung übernommen. Doch bislang fehlt das Geld zur Umsetzung dieses Vorhabens.
Das Paradies der Jesiden: In den Flüchtlingscamps Mam Rashan und Shekhan ist es grün und heiß und es wachsen Gurken darin. Für Westeuropäer, die sich bevorzugt in klimatisierten Büros mit Einheitstemperatur aufhalten, wäre es eine schwer auszuhaltende schwüle Hölle. Aber sie haben ja auch das Glück, nicht so viel im Leben verloren zu haben wie die Jesiden, die seit Jahren heimatlos sind.