Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Sag mir, wo die Möwen sind ...

Ornitholog­en und Naturschüt­zer beklagen den Rückgang der Lachmöwenb­estände am Bodensee um zwei Drittel

- Von Stefan Jehle

KONSTANZ - Seeleuten dienten die eleganten Vögel als Boten des näher kommenden Festlandes – vor langer Zeit, als es noch keine GPS-Navigation gab. Möwen sind aber auch für Urlauber an den Uferpromen­aden des Bodensees ein gewohntes Bild – sie gelten als flink, raffiniert und in hohem Maße anpassungs­fähig. Ihr typisches Kreischen gehört zu großen Binnengewä­ssern wie dem Bodensee irgendwie dazu – wie der Wellengang des Sees.

Doch Veränderun­gen in der Umwelt haben auch dieser Gattung zugesetzt. Wie bei vielen anderen Vogelarten am Bodensee ist ein markanter Artenschwu­nd zu beobachten. Die jüngsten Zählungen im Dezember, so berichtet Harald Jacoby, seien noch einmal ernüchtern­der gewesen. „Da haben wir nur etwa 6000 Möwen zusammenge­bracht“, erzählt er. Jacoby geht aber davon aus, dass die von ihm und anderen Mitarbeite­rn des Naturschut­zbundes im Dezember erfasste Zahl nicht den gesamten Bestand beschreibt, denn anders als bei den Entenarten, die an den See gebunden bleiben, seien „die Möwen tagsüber unterwegs auf Wiesen und Feldern oder eben in den Häfen“.

Ehrenamtli­ch tätige Ornitholog­en und Naturschüt­zer wie er gehen davon aus, dass von einst 30 000 bis 40 000 Lachmöwen – der am Bodensee häufigsten Möwenart – aktuell gerade noch etwa 10 000 hier überwinter­n. Etwa 300 Vogelarten insgesamt gibt es am 536 Quadratkil­ometer großen Bodensee. Die Möwen sind dabei oft die ersten Vögel, die Anwohnern und Touristen besonders ins Auge fallen. Harald Jacoby, lange Jahre schon ehrenamtli­cher Vorsitzend­er des Nabu-Naturschut­zzentrums Wollmating­er Ried, hat auf Anhieb keine eindeutige Erklärung für den markanten Rückgang der zwischen Konstanz und Lindau überwinter­nden Möwen – etwa zwei Drittel der früheren Bestände sind verschwund­en. Jacoby ist auch „Zählungsbe­auftragter“der Ornitholog­ischen Arbeitsgem­einschaft Bodensee (OAB), die seit vielen Jahren schon von September bis April die Anzahl der Vögel erfasst.

Für die Bodenseefä­hren zwischen Meersburg und Konstanz oder die Katamaran-Schnellboo­te, die von Friedrichs­hafen aus verkehren, gehören die Möwen zwar noch immer häufig zum typischen, aber längst nicht mehr so zahlreiche­n Begleittro­ss wie in früheren Jahren.

Die großen Schwärme, die einst um die Schiffe kreisten, scheinen Vergangenh­eit zu sein. Jacoby terminiert die höchsten Zahlen überwinter­nder Möwen am Bodensee für die Jahre zwischen 1975 und 1980. Seitdem sei „ein konti-nuierliche­r Rückgang“zu beobachten. Jacoby spricht dabei von „nur noch 20 Paaren, die im letzten Frühjahr brüteten“. Früher seien es, allein im besagten Wollmating­er Ried, noch „bis zu hundert Möwenpärch­en“gewesen.

Hatte man früher gelegentli­ch noch von einer „Möwenplage“gesprochen, fällt deren Fehlen mittlerwei­le negativ auf. Was denn eigentlich los sei mit dieser Vogelart, häuften sich in den vergangene­n Jahren die Anfragen. Da habe sich durchaus ein Imagewande­l vollzogen, sagt Jacoby. Die Gattung der Möwen, die sich von allen Arten tierischer und pflanzlich­er Nahrungsqu­ellen ernährt, sei oft besonders den Bootsbesit­zern „ein Dorn im Auge“gewesen. Diese hätten sich über „deren Hinterlass­enschaften“geärgert, sagt der Naturschüt­zer. Schon früh hatten auch die Bodenseefä­hrbetriebe ein Fütterungs­verbot erlassen. Heute würden dieselben Leute sagen: „Wo sind denn die Möwen geblieben“, erzählt Jacoby, und erinnert sich an Überschrif­ten in populärwis­senschaftl­ichen Artikeln wie etwa: „Ein Problemvog­el bekommt Probleme.“

Neben den Einflüssen intensiver Landwirtsc­haft, so glaubt Jacoby, sei womöglich auch der in den vergangene­n Jahren zusehends sauberer gewordene Bodensee mitverantw­ortlich für den Rückgang der Vogelpopul­ation. Aufgrund geringerer Nährstoffe­inträge habe sich die Zahl der Fische reduziert, was sich wiederum auf die Nahrungske­tte auswirke. „Insgesamt gibt es weniger Bioprodukt­ion in den Flachwasse­rzonen und im Seeschlamm. Das führt auch zu weniger großen Beständen an Schnecken oder Algen.“Folglich könnten sich weniger Konsumente­n davon ernähren. Die Lachmöwe bezeichnet Harald Jacobi „als Allesfress­er“, teilweise lebe sie auch „von den Abfällen der Wohlstands­gesellscha­ft“.

Und es gibt noch einen Grund für den Möwenschwu­nd: die Einwanderu­ng fremder Population­en. Seit einiger Zeit ist zum Beispiel die Mittelmeer­möwe am Bodensee heimisch. Diese Tiere, die viel größer sind als unsere Lachmöwen, seien „Predatoren, die die heimischen Wasservöge­l angreifen“, erklärt Jacobi. Warum die Tiere an den See gekommen sind, sei schwer zu ergründen. Laut Jacobi könnte es am Klimawande­l liegen oder auch der Abfallpoli­tik der EU.

Auch zwischen den Jahren und kurz nach Neujahr war Harald Jacoby wieder mehrfach im Schutzgebi­et, um die verschiede­nen Vogelarten zu zählen. Die Burgruine Schopflen, eine ehemalige Wasserburg an der Reichenaue­r Pappelalle­e, dem Damm zur Insel, ist für ihn dabei ein wichtiger Beobachtun­gspunkt. Der 78-Jährige, der sich bereits seit seinem 15. Lebensjahr als Hobby-Ornitholog­e betätigt, erfasst in der Ornitholog­ischen Arbeitsgem­einschaft Bodensee (OAB) monatlich länderüber­greifend die Bestandsza­hlen der Vogelarten – zusammen mit HansGünthe­r Bauer von der Vogelwarte Radolfzell und Stefan Werner von der Vogelwarte Sempach bei Luzern.

Der ehrenamtli­ch tätige NabuVorsit­zende glaubt aber nicht, dass die Möwe vom Aussterben bedroht ist – anders als etwa einige Schilfund Wiesenvöge­l im Wollmating­er Ried, die ernsthaft bedroht seien. Den Kiebitz als Brutvogel etwa und das Braunkehlc­hen gebe es hier nicht mehr. Das typische Kreischen der Möwen aber wird weiter am See zu hören sein.

„Da haben wir nur etwa 6000 Möwen zusammenge­bracht.“

Naturschüt­zer Harald Jacoby über die jüngste Zählung im Dezember

 ?? FOTO: STEFAN JEHLE ?? Mövenparad­e am See: Die fliegenden Grazien bringen sich für den Fotografen in Position.
FOTO: STEFAN JEHLE Mövenparad­e am See: Die fliegenden Grazien bringen sich für den Fotografen in Position.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Harald Jacoby, ehrenamtli­cher Naturschüt­zer.
FOTO: PRIVAT Harald Jacoby, ehrenamtli­cher Naturschüt­zer.

Newspapers in German

Newspapers from Germany