Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Sag mir, wo die Möwen sind ...
Ornithologen und Naturschützer beklagen den Rückgang der Lachmöwenbestände am Bodensee um zwei Drittel
KONSTANZ - Seeleuten dienten die eleganten Vögel als Boten des näher kommenden Festlandes – vor langer Zeit, als es noch keine GPS-Navigation gab. Möwen sind aber auch für Urlauber an den Uferpromenaden des Bodensees ein gewohntes Bild – sie gelten als flink, raffiniert und in hohem Maße anpassungsfähig. Ihr typisches Kreischen gehört zu großen Binnengewässern wie dem Bodensee irgendwie dazu – wie der Wellengang des Sees.
Doch Veränderungen in der Umwelt haben auch dieser Gattung zugesetzt. Wie bei vielen anderen Vogelarten am Bodensee ist ein markanter Artenschwund zu beobachten. Die jüngsten Zählungen im Dezember, so berichtet Harald Jacoby, seien noch einmal ernüchternder gewesen. „Da haben wir nur etwa 6000 Möwen zusammengebracht“, erzählt er. Jacoby geht aber davon aus, dass die von ihm und anderen Mitarbeitern des Naturschutzbundes im Dezember erfasste Zahl nicht den gesamten Bestand beschreibt, denn anders als bei den Entenarten, die an den See gebunden bleiben, seien „die Möwen tagsüber unterwegs auf Wiesen und Feldern oder eben in den Häfen“.
Ehrenamtlich tätige Ornithologen und Naturschützer wie er gehen davon aus, dass von einst 30 000 bis 40 000 Lachmöwen – der am Bodensee häufigsten Möwenart – aktuell gerade noch etwa 10 000 hier überwintern. Etwa 300 Vogelarten insgesamt gibt es am 536 Quadratkilometer großen Bodensee. Die Möwen sind dabei oft die ersten Vögel, die Anwohnern und Touristen besonders ins Auge fallen. Harald Jacoby, lange Jahre schon ehrenamtlicher Vorsitzender des Nabu-Naturschutzzentrums Wollmatinger Ried, hat auf Anhieb keine eindeutige Erklärung für den markanten Rückgang der zwischen Konstanz und Lindau überwinternden Möwen – etwa zwei Drittel der früheren Bestände sind verschwunden. Jacoby ist auch „Zählungsbeauftragter“der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Bodensee (OAB), die seit vielen Jahren schon von September bis April die Anzahl der Vögel erfasst.
Für die Bodenseefähren zwischen Meersburg und Konstanz oder die Katamaran-Schnellboote, die von Friedrichshafen aus verkehren, gehören die Möwen zwar noch immer häufig zum typischen, aber längst nicht mehr so zahlreichen Begleittross wie in früheren Jahren.
Die großen Schwärme, die einst um die Schiffe kreisten, scheinen Vergangenheit zu sein. Jacoby terminiert die höchsten Zahlen überwinternder Möwen am Bodensee für die Jahre zwischen 1975 und 1980. Seitdem sei „ein konti-nuierlicher Rückgang“zu beobachten. Jacoby spricht dabei von „nur noch 20 Paaren, die im letzten Frühjahr brüteten“. Früher seien es, allein im besagten Wollmatinger Ried, noch „bis zu hundert Möwenpärchen“gewesen.
Hatte man früher gelegentlich noch von einer „Möwenplage“gesprochen, fällt deren Fehlen mittlerweile negativ auf. Was denn eigentlich los sei mit dieser Vogelart, häuften sich in den vergangenen Jahren die Anfragen. Da habe sich durchaus ein Imagewandel vollzogen, sagt Jacoby. Die Gattung der Möwen, die sich von allen Arten tierischer und pflanzlicher Nahrungsquellen ernährt, sei oft besonders den Bootsbesitzern „ein Dorn im Auge“gewesen. Diese hätten sich über „deren Hinterlassenschaften“geärgert, sagt der Naturschützer. Schon früh hatten auch die Bodenseefährbetriebe ein Fütterungsverbot erlassen. Heute würden dieselben Leute sagen: „Wo sind denn die Möwen geblieben“, erzählt Jacoby, und erinnert sich an Überschriften in populärwissenschaftlichen Artikeln wie etwa: „Ein Problemvogel bekommt Probleme.“
Neben den Einflüssen intensiver Landwirtschaft, so glaubt Jacoby, sei womöglich auch der in den vergangenen Jahren zusehends sauberer gewordene Bodensee mitverantwortlich für den Rückgang der Vogelpopulation. Aufgrund geringerer Nährstoffeinträge habe sich die Zahl der Fische reduziert, was sich wiederum auf die Nahrungskette auswirke. „Insgesamt gibt es weniger Bioproduktion in den Flachwasserzonen und im Seeschlamm. Das führt auch zu weniger großen Beständen an Schnecken oder Algen.“Folglich könnten sich weniger Konsumenten davon ernähren. Die Lachmöwe bezeichnet Harald Jacobi „als Allesfresser“, teilweise lebe sie auch „von den Abfällen der Wohlstandsgesellschaft“.
Und es gibt noch einen Grund für den Möwenschwund: die Einwanderung fremder Populationen. Seit einiger Zeit ist zum Beispiel die Mittelmeermöwe am Bodensee heimisch. Diese Tiere, die viel größer sind als unsere Lachmöwen, seien „Predatoren, die die heimischen Wasservögel angreifen“, erklärt Jacobi. Warum die Tiere an den See gekommen sind, sei schwer zu ergründen. Laut Jacobi könnte es am Klimawandel liegen oder auch der Abfallpolitik der EU.
Auch zwischen den Jahren und kurz nach Neujahr war Harald Jacoby wieder mehrfach im Schutzgebiet, um die verschiedenen Vogelarten zu zählen. Die Burgruine Schopflen, eine ehemalige Wasserburg an der Reichenauer Pappelallee, dem Damm zur Insel, ist für ihn dabei ein wichtiger Beobachtungspunkt. Der 78-Jährige, der sich bereits seit seinem 15. Lebensjahr als Hobby-Ornithologe betätigt, erfasst in der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Bodensee (OAB) monatlich länderübergreifend die Bestandszahlen der Vogelarten – zusammen mit HansGünther Bauer von der Vogelwarte Radolfzell und Stefan Werner von der Vogelwarte Sempach bei Luzern.
Der ehrenamtlich tätige NabuVorsitzende glaubt aber nicht, dass die Möwe vom Aussterben bedroht ist – anders als etwa einige Schilfund Wiesenvögel im Wollmatinger Ried, die ernsthaft bedroht seien. Den Kiebitz als Brutvogel etwa und das Braunkehlchen gebe es hier nicht mehr. Das typische Kreischen der Möwen aber wird weiter am See zu hören sein.
„Da haben wir nur etwa 6000 Möwen zusammengebracht.“
Naturschützer Harald Jacoby über die jüngste Zählung im Dezember