Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Streif-Zug mit Hansi
Der Volksmusikstar ist neben der steilsten Piste der Welt aufgewachsen, der Streif – Vor dem legendären Hahnenkammrennen in Kitzbühel zeigt Hansi Hinterseer, wie auch Flachlandtiroler die gefährlichste aller Abfahrten heil runterkommen
Abfahrt? Hier gibt’s nur eins: Absturz! Geradewegs in den Abgrund. Beim Blick aus dem roten Rahmen des Starterhauses die Piste hinunter sind das die ersten Gedanken. Übrigens nicht nur von Hobby-Carvern. „I foar do net runter“, sagte Franz Klammer bei seinem ersten Streif-Start 1973 in Kitzbühel. Hat er aber doch gemacht. Und viermal gewonnen, so oft wie keiner. Wer das heute schaffen will, muss Gas geben, von 0 auf 130 km/h in acht Sekunden. Mit dieser Schumi-Beschleunigung geht’s runter in die „Mausefalle“, den Abgrund mit 85 Prozent Gefälle. „Trau di, bis do könn’ mer foahrn“, sagt Hansi Hinterseer. Tatsächlich, der Starthang ist nicht vereist, wir kommen heil an der Kante zur „Mausefalle“an. „Hier hat der US-Trainer seinen Fahrern in den 1990er-Jahren mal falsche Tipps für den Absprung gegeben“, erzählt Hansi, „die Boys sind daraufhin alle im Wald gelandet.“
Auch darum biegen wir lieber ab – auf die Familienstreif, eine ZiehwegUmfahrung aller Steilstücke der Rennstrecke. Hansi immer voraus, mit 64 Jahren genauso blond, genauso strahlend und naturburschig wie Do droben wor’s, auf der Seidlalm, wo i aufg’wachsn bin.
Hansi Hinterseer über seine Kindheit in den Bergen rund um Kitzbühel
in seinen TV-Shows und Filmen. Perfekte Bögen radiert er in den Schnee, nicht mit taillierten Carvingski, sondern geraden Latten alten Typs. Auf solchen hat er schließlich 1973 den Gesamtweltcup und 1974 den Slalom hier auf seinem Hausberg, dem Hahnenkamm, gewonnen. Letzterer ist während des Rennens eine 3312 Meter lange, künstlich vereiste Autobahn, und am Rand müssten eigentlich Holzkreuze stehen für die vielen Opfer. Etwa für den Kanadier Brian Stemmle. „Mit einem Ski da oben in den Fangzaun eingefädelt, den hat’s total gr’issen, er hot sich bis heit net recht erholt“, erzählt Hansi Hinterseer, während wir beim Teilstück mit dem wenig vertrauenerweckenden Namen „Gschöß“wieder auf die Renn-Streif einbiegen. Hüftpfannenfraktur, Darmriss, Schädel-Hirntrauma und Lungenquetschung, das sind – alle Jahre wieder – typische Hahnenkamm-Diagnosen, trotz einer Sicherheitszaun-Dichte wie bei der Formel I.
Todesmut und Lebensgefahr der Brettl-Piloten, machen sie den besonderen Kick aus in Kitzbühel? „Nein“, sagt Hansi Hinterseer, der den Weltcup-Rennzirkus bis 2009 mehr als 20 Jahre lang als Experte für das österreichische Fernsehen genau verfolgt hat. Indirekt bestätigt er’s dann doch, nennt die harte Streckenführung mit den vielen Sprüngen und Steilstücken und – „das hat kein anderes Weltcuprennen“– diese einmalige Zieleinfahrt mitten in der Stadt als Gründe für den Mythos Streif. Ja, aus der Vollbremsung von notorischen Rasern, die das innerstädtische Tempolimit um mehr als das Doppelte überschreiten, macht Kitzbühel seit Jahrzehnten ein GalaEvent mit 1a-Promi-Gedränge. Kaiser Franz (Beckenbauer), Prinz Albert (von Monaco) nebst jeder Menge Hoch- und Niederadel, Dollar und Rubel, Schicki und Micki sowie 100 000 Jedermanns und Adabeis an einem Wochenende. Bryan Adams wird schon mal für eine Hotelparty eingeflogen und Gloria Gaynor besingt ein paar Häuser weiter, was alle Weltcup-Draufgänger sich innig wünschen: „I will survive“. Wenn der Weltcup-Zirkus die Formel I des Skisports ist, dann ist Kitzbühel sein Monte Carlo. Aber auch ein bisschen der Ballermann. Im Pub „The Londoner“bekommt man schon mal Bier über den Kopf geschüttet – „aus Tradition“, grölen die Täter. Meist haben sie wenig später zu viel in sich hineingeschüttet und liegen auf der Straße. „Nicht gut für Kitz, nicht gut für den Weltcup“, findet Hansi Hinterseer, rammt die Stahlkanten in den Schnee und erzählt, wie dieser Skizirkus erfunden wurde. „Do droben wor’s, auf der Seidlalm, wo i aufg’wachsn bin.“Kitzbühels Skilegende Toni Sailer, ein französischer und ein amerikanischer Journalist hatten im Januar 1966 die Idee in der heute noch fast unveränderten, engen Stube der Alm. Der elfjährige Hansi saß dabei, nach seinem ganz persönlichen Hahnenkammrennen: Im Winter raste er jeden Morgen auf Skiern nach Kitzbühel zur Schule. „Die begann um halb acht im Dunkeln – darum bin ich immer erst um neun runter, und habe so manche Klassenarbeit verpasst – leider“, erzählt Hansi Hinterseer augenzwinkernd. Klein-Hansis tägliches Abfahrtstraining brachte ihm später als Rennläufer einen wichtigen Vorteil gegenüber Konkurrenten: Respekt ja, aber keine Angst vor der Streif.
Keine Angst – wie soll das gehen, wo sich rechts schon der nächste verschneite Schlund auftut? Ob wir da runter müssen? Entscheidung vertagt, denn vorher ist wieder einer dieser „Servus-Hansi-Momente“. Diesmal keine Touristen, die ein Foto wollen, sondern Alois Vötter, ein KitzOriginal. Der Mann mit vereistem Rauschebart ist gerade auf seinem persönlichen Streif-Stück unterwegs: Hier hat er Anfang der 1950er-Jahre Felsstücke weggesprengt, damit die Rennstrecke steiler in Richtung Tal geführt werden konnte.
Hansi ist heute gnädig mit seinem Gast, und bleibt mit Zeitlupenschwüngen auf der Familienstreif. Wie knie- und knochenschonend das ist, zeigt sich ein paar Kurven weiter unten beim Blick hoch an einer weißen Wand, der Hausbergkante. „Die schwierigste Stelle der Abfahrt“, sagt Hinterseer. Wenn die Rennläufer hier aus dem Wald geschossen kommen und erstmals fürs Publikum im Ziel sichtbar werden, sind sie am Ende. Nicht der Strecke, sondern ihrer Kräfte. Dabei müssen sie jetzt erst Höchstleistung bringen: Mit 120 km/h über Bodenwellen, dabei wirkt ein Druck auf die Beine, als müssten sie 1200 Kilo stemmen, wenn auch nur für Momente, haben Experten der Sporthochschule Köln errechnet.
Sekunden später wünschen die Läufer sich „guten Flug“beim Zielsprung. Denn wer hier abhebt, landet schon mal im Koma, wie der Schweizer Daniel Albrecht in 2009. Muss die Streif entschärft werden? „Nein“, sagt Hansi ohne Zögern, „das war ein Fahrfehler von Daniel.“Schließlich seien die Rennläufer hier schon immer mit Karacho Richtung Ziel geschossen. Sein Vater Ernst Hinterseer etwa, Olympiasieger 1960, damals noch auf Holzski, mit Lederstiefeln und Baumwollhosen. Mal ehrlich, so gefährlich sieht der Zielhang doch gar nicht aus. Also los, wenigstens hier einmal mutig sein und in Falllinie runter, sozusagen den Streif-Schuss wagen. Ich bilde mir ein, dass 45 000 Zuschauer jubeln mit Tröten und Kuhglockengeläut. Leider verstummen sie sofort wieder. Weil ich aus der rasanten Rennfahrerhocke in den Zeitlupen-AngstSchwung wechsle.
Hansi lächelt milde und pfeift einen seiner Hits: „Zwei paar Ski und Du und I, Schnee und Sonnenschein und wir allein, mehr braucht man nicht zum Glücklichsein.“