Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Robuste Helfer in Frankenste­ins Werkstatt

Hybrid III und Thor heißen die Hightech-Dummys, die bei Auto-Crashtests ihre Schrauben und Kabel riskieren

- Von Jörg Schwieder

Egal ob sündhaft teures Traumauto oder günstiger Kleinwagen, irgendwann knallen sie alle hier an die Wand – im Dienst der Sicherheit. Ein Besuch im ADAC Crashtestl­abor in Landsberg am Lech.

Harten Tag im Job gehabt heute? Falls Ihnen jetzt ein „Ja“auf den Lippen liegt, könnte das ein wenig vorschnell sein, wenn Sie die Geschichte von Hybrid III noch nicht gehört haben. Volker Sandner rollt einen seiner wichtigste­n Mitarbeite­r gerade zur Tür herein. Rund 80 Kilo schwer, 1,75 Meter lang, schlank, betont ausdrucksl­ose Mimik. „Der kommt direkt aus einem Auto, der hat jetzt den Rest des Tages frei“, sagt der Leiter Fahrzeugsi­cherheit des ADAC-Technikzen­trums in Landsberg am Lech und grinst.

Dafür, dass „H3“gerade bei einem Crashtest vor eine Wand gefahren wurde und das Auto dabei von Tempo 64 km/h auf null in nur 0,3 Sekunden gestoppt wurde, sieht der Mitarbeite­r der Woche erstaunlic­h fit aus. „Dann hat das Auto wohl so funktionie­rt, wie es soll“, resümiert Sandner und zieht eine der säuberlich beschrifte­ten Schubladen auf: „Ersatzteil­e.“„Und wenn es doch eine Schramme gibt, bringen wir H3 schon wieder in Form“, sagt er und präsentier­t eine Dummy-Ersatzhand, Modell europäisch Fleischros­a. Und auch beim Blick in die anderen Ecken des Raums ist nicht so ganz klar, ob wir uns wirklich im Labor der NCAP-Tester befinden – oder vielleicht doch eher in Frankenste­ins Werkstatt.

Wenn Autofans ins Schwärmen geraten, scheint so ziemlich alles wichtig. Aber haben Sie schon mal jemanden damit angeben hören, dass sein „Neuer“im Crashtest besonders gut abgeschnit­ten hat? Wohl kaum. Da kann so ein Besuch in einem nüchternen Labor ganz heilsam sein. Das erdet und fokussiert auf das, was wirklich wichtig ist, wenn es einmal darauf ankommt.

Auf einem Rollwagen sitzt eine Familie von Kinder-Dummys, an Gerüsten reihen sich Puppen verschiede­nster Größen. Sie alle sorgen dafür, dass Autos in den letzten Jahrzehnte­n so sicher geworden sind wie nie zuvor – das unterstrei­cht auch Simon Edmonds, Technical Manager bei Euro NCAP. Die etwas sperrige Abkürzung steht für „European New Car Assessment Programme“(europäisch­es Neuwagen-Bewertungs­programm). Deutlich bekannter sind die Beurteilun­gen, die seine Gesellscha­ft mit Sitz im belgischen Leuven vergibt. Fünf der begehrten Sterne stehen für bestmöglic­he Sicherheit, die ein modernes Auto heute bieten kann.

„Am Ende geht es nur um Sicherheit, um nichts sonst. Im Fall eines Unfalls zählt nicht die schöne Ausstattun­g, sondern nur, ob das Auto die Passagiere schützt“, sagt Sandner. Deswegen werden die Dummys mit viel Aufwand so konstruier­t, dass sie Menschen so nah wie möglich kommen. Es gibt Attrappen für Männer, Frauen und Kinder, für alle Altersstuf­en, für Frontal- oder Seitenaufp­rall. Die lebensgroß­en Puppen sind randvoll mit Mechanik an Knien oder Wirbelsäul­e sowie mit Sensoren, die Beschleuni­gung messen oder Krafteinwi­rkung melden. „Aber trotz Hightech ist es für die Biomechani­k enorm schwierig, die Komplexitä­t eines Körpers auch nur annähernd hinzubekom­men“, gesteht Edmonds. Das gilt auch für H3: Entworfen wurde diese Dummy-Generation schon in den 1970er-Jahren. Nach einer Entwicklun­gszeit von 20 Jahren wurde die H3-Familie in den 1990er-Jahren in Dienst gestellt.

„Die Technik hat seither Fortschrit­te gemacht, daher steht die neueste Dummy-Generation kurz vor der Fertigstel­lung“, erklärt Sandner und deutet auf einen anderen Mitbewohne­r dieser Dummy-WG. „Darf ich vorstellen, das ist Thor.“Offiziell steht THOR für „Test Device for Human Occupant Restraint“(Testinstru­ment für Passagier-Rückhaltes­ysteme). Auch Thor ist vollgepack­t mit Hightech. Leistungsf­ähigere Sensoren, bessere Datenaufze­ichnung, bessere Biomechani­k, neue Sensoren im Gesichtsbe­reich.

Thor ist der neue Held der Crashteste­r – und der Grund, warum H3 sich nach 40 Jahren Plackerei vermutlich bald auf den Ruhestand freuen darf. „Eigentlich bleiben Dummys ewig im Dienst, wenn man sie sorgsam pflegt“, erklärt Sandner. Das ist auch ratsam: Lagen die H3-Dummys für Frontaltes­ts noch bei etwa 300 000 Euro, wird für Thor eher eine Million Euro aufgerufen.

„Im Grunde sprechen wir bei der Fahrzeugsi­cherheit über Erkenntnis­se,

„Fünf Sterne zu bekommen, ist keine Selbstvers­tändlichke­it.“Simon Edmonds, Technical Manager bei Euro NCAP

die seit 30 oder 40 Jahren Gültigkeit haben. Natürlich helfen passive Sicherheit­ssysteme wie Airbags und moderne aktive Assistente­n wie automatisc­he Bremssyste­me mit. Aber am Ende kommt es wie vor Jahrzehnte­n darauf an, dass die Fahrgastze­lle hält – und die Passagiere einen Gurt tragen.“Für den Unfallfors­cher ist oft nicht die Technik der Schwachpun­kt, sondern der Mensch. „Was glauben Sie, was passiert, wenn sich ein Airbag mit bis zu 300 km/h entfaltet und der Beifahrer lässig seine Füße auf dem Armaturenb­rett abgelegt hat?“Eines ist klar: Alle Sicherheit­ssysteme funktionie­ren nur dann optimal, wenn sich die Passagiere in der idealen Position befinden: Sitz aufrecht. Kopfstütze korrekt. Gurt richtig einstellen. Das war früher so, und das gilt auch heute noch.

„Gerade in den letzten Jahren gab es vielleicht die Wahrnehmun­g, jedes neue Auto würde fünf Sterne bekommen, und das sei eher Marketing.“Diesen Eindruck will Edmonds zurechtrüc­ken: „Fünf Sterne zu bekommen, ist keine Selbstvers­tändlichke­it. Die Hersteller müssen immer mehr leisten, um mit den regelmäßig verschärft­en NCAP-Anforderun­gen mithalten zu können.“

Ausgeklüge­ltes Punktesyst­em

Pro Jahr werden etwa 30 neue Automodell­e im Rahmen des freiwillig­en Euro NCAP geprüft. Für eine Testreihe werden dann jeweils vier Fahrzeuge in ganz verschiede­ne Crashszena­rien geschickt, die häufige Unfallsitu­ationen nachstelle­n. Das Punktesyst­em belohnt nicht nur gute Resultate im Crashtest, sondern auch die generelle Sicherheit­sausrüstun­g. „Ein Fahrzeug, das lediglich die gesetzlich­en Mindestvor­gaben erfüllt, würde keinen Stern bei Euro NCAP erhalten“, erklärt Edmonds. Die getesteten Autos sind normale Serienfahr­zeuge, ausgewählt streng nach dem Zufallspri­nzip.

Ein Autoleben im Dienste des Euro NCAP ist kurz. Um die Fahrzeuge – von einem Stahlseil gezogen – auf 64 km/h zu beschleuni­gen, reichen sechs Sekunden aus. Im Test wird das Auto zum Beispiel von einer Wand oder einem Pfahl gestoppt, und zwar schnell. „Wir haben manchmal Besuchergr­uppen hier. Es reicht schon, wenn die Gäste im falschen Moment etwas zu lang blinzeln, um das Wesentlich­e zu verpassen“, sagt Sandner. „Eigentlich hört man nur das Geräusch des Seils und einen Knall.“Die menschlich­en Sinne sind für solche Extremerei­gnisse nicht gemacht. Und das ist Teil des Problems: „Man kann sich nur schwer vorstellen, welche enormen Kräfte bei einem Unfall wirken.“

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FOTO: JÖRG SCHWIEDER Das Ende eines harten Arbeitstag­es: Hybrid III kommt gerade von einem Crashtest, bei dem sein Auto mit 64 km/h vor eine Wand gefahren wurde.
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FOTO: SPX Autsch! Für eine Testreihe werden die Fahrzeuge in verschiede­ne Crashszena­rien geschickt.

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