Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Spuren der NS-Zeit in Ravensburg
5000 Menschen wurden in der Stadt zu Opfern
RAVENSBURG - Knapp 5000 Menschen sind allein in Ravensburg in irgendeiner Form Opfer der NS-Herrschaft geworden. Und das, obwohl die Stadt im Dritten Reich nur rund 25 000 Einwohner hatte.
„Auf Spurensuche: Ravensburg während des NS-Regimes“war der Titel einer Workshop-Reihe, die im Begleitprogramm der kürzlich zu Ende gegangenen Anne-Frank-Ausstellung stattfand. Die Veranstaltungen richteten sich in erster Linie an Schüler, standen aber auch anderen Interessierten offen. Zehn Workshops gab es, vier weitere Termine finden noch nach dem Ende der Ausstellung statt.
Christoph Freund, der seit 13 Jahren Stadtführungen in Ravensburg, seit zehn Jahren auch Führungen im Museum Humpisquartier macht, war Referent der Workshops. Er will Abstraktes konkret machen, den Leuten zeigen, „was damals vor der eigenen Haustür geschehen ist“. Gerade bei jungen Leuten bemerke er oftmals Zurückhaltung und Unsicherheit bei einem heiklen Thema wie dem Dritten Reich. Wenn man ihnen aber zeige, wie sich die NSZeit jenseits der großen Schauplätze abgespielt hat, erleichtere das den Zugang. Freund: „Viele spiegeln das damals Geschehene mit sich selbst, der eigenen Biografie, der eigenen Familiengeschichte.“
An einem trüben, kühlen Morgen führt Christoph Freund eine Schülergruppe durch Ravensburg. Der Weg geht zum Mahnmal für die ermordeten Sinti über den alten jüdischen Betsaal in der Grünen-TurmStraße, vorbei an Stolpersteinen hin zu ehemals von Juden geführten Kaufhäusern auf dem Marienplatz. Freund erläutert dabei die lokalen Geschehnisse während der Nazizeit.
Dem Spaziergang voraus ging eine kleine theoretische Einführung im Medienhaus. Auch hier lenkte der Referent den Blick auf das lokale Geschehen. Immerhin 37,2 Prozent der Ravensburger wählten demnach 1933 die NSDAP. Fast 5000 Personen wurden in Ravensburg in der Nazizeit in irgendeiner Form Opfer, rechnete Christoph Freund vor. Die größte Gruppe waren die 3600 Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten in ganz Europa. 691 Frauen und Männer wurden Opfer des Euthanasieprogramms, 602 Menschen wurden im Heilig-Geist-Spital zwangssterilisiert. Weitere Zahlen: 29 ermordete Sinti, 35 politisch motivierte Inhaftierungen, elf Kommunalpolitiker kamen ins KZ, acht Juden überlebten die NS-Zeit nicht.
„All das passierte in der kleinen Stadt Ravensburg“, sagte Freund vor den Schülern. Diese Ausgrenzung von Menschen sei heute kaum mehr vorstellbar. Und doch: Aktuelle Entwicklungen zeigen, wie Diskriminierung und Ausgrenzung wieder zunehmen. Der Bezug zum Jetzt: Diese Verknüpfung war auch ein zentrales Anliegen der Anne-Frank-Ausstellung im Ravensburger Medienhaus.