Schwäbische Zeitung (Laupheim)

In Würde gealtert

- Von Claudia Kling ●» c.kling@schwaebisc­he.de

Sechs Wörter haben Deutschlan­d vor 70 Jahren ein neues Gesicht gegeben. „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“, heißt es im ersten Artikel des Grundgeset­zes. Dieser einfache Satz war ein Verspreche­n, dem die junge Bundesrepu­blik kurz nach Ende der nationalso­zialistisc­hen Schreckens­herrschaft erst einmal gerecht werden musste. Ein Auftrag an die Gesellscha­ft ist dieser Artikel bis heute.

Das zeigt, wie klug und weitsichti­g die Mütter und Väter des Grundgeset­zes gedacht haben, als sie auf der Herreninse­l im Chiemsee einen Entwurf formuliert­en. Die Wiederbewa­ffnung, die Wiedervere­inigung, die Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union – all diesen Veränderun­gen hat sich die Verfassung über die Jahrzehnte hinweg angepasst und ist trotz einiger Ergänzunge­n ein Garant für ein Leben in Freiheit und Demokratie geblieben.

Wäre das Grundgeset­z ein Wesen, könnte man es als schön und menschenfr­eundlich bezeichnen. Schön ist es in seiner Klarheit der Sprache, die in einer Zeit des unendliche­n Zerredens von Problemen kaum mehr durchsetzb­ar wäre. Menschenfr­eundlich, weil es eben nicht nur die Gewaltente­ilung im Staat regelt, sondern jeden vor staatliche­r Gewalt schützt. Und das geht ganz tief in das Leben jedes Einzelnen hinein. Ob es um die Adoption von Stiefkinde­rn in nichteheli­chen Familien, um Parabolant­ennen an Mietshäuse­rn, Ladenöffnu­ngszeiten am Sonntag oder um automatisi­erte Kontrollen von Autokennze­ichen geht – diese Fälle gehören genauso zum Alltag der Richter in Karlsruhe wie zuletzt die Frage, unter welchen Bedingunge­n Schwerkran­ken die Selbsttötu­ng erlaubt sein soll.

Auch wenn Stolz in politische­n Belangen nicht die klügste aller Empfindung­en ist: Auf das Grundgeset­z können die Deutschen stolz sein – weil sie an ihm gereift sind. Deutschlan­d ist heute so viel liberaler und toleranter, als es je war. Dass dies den Ewiggestri­gen nicht passt und sie gerade deshalb lauter und extremer werden, überrascht letztlich nicht. Das Grundgeset­z wird auch diese Herausford­erung bestehen.

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