Schwäbische Zeitung (Laupheim)
In Würde gealtert
Sechs Wörter haben Deutschland vor 70 Jahren ein neues Gesicht gegeben. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im ersten Artikel des Grundgesetzes. Dieser einfache Satz war ein Versprechen, dem die junge Bundesrepublik kurz nach Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft erst einmal gerecht werden musste. Ein Auftrag an die Gesellschaft ist dieser Artikel bis heute.
Das zeigt, wie klug und weitsichtig die Mütter und Väter des Grundgesetzes gedacht haben, als sie auf der Herreninsel im Chiemsee einen Entwurf formulierten. Die Wiederbewaffnung, die Wiedervereinigung, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union – all diesen Veränderungen hat sich die Verfassung über die Jahrzehnte hinweg angepasst und ist trotz einiger Ergänzungen ein Garant für ein Leben in Freiheit und Demokratie geblieben.
Wäre das Grundgesetz ein Wesen, könnte man es als schön und menschenfreundlich bezeichnen. Schön ist es in seiner Klarheit der Sprache, die in einer Zeit des unendlichen Zerredens von Problemen kaum mehr durchsetzbar wäre. Menschenfreundlich, weil es eben nicht nur die Gewaltenteilung im Staat regelt, sondern jeden vor staatlicher Gewalt schützt. Und das geht ganz tief in das Leben jedes Einzelnen hinein. Ob es um die Adoption von Stiefkindern in nichtehelichen Familien, um Parabolantennen an Mietshäusern, Ladenöffnungszeiten am Sonntag oder um automatisierte Kontrollen von Autokennzeichen geht – diese Fälle gehören genauso zum Alltag der Richter in Karlsruhe wie zuletzt die Frage, unter welchen Bedingungen Schwerkranken die Selbsttötung erlaubt sein soll.
Auch wenn Stolz in politischen Belangen nicht die klügste aller Empfindungen ist: Auf das Grundgesetz können die Deutschen stolz sein – weil sie an ihm gereift sind. Deutschland ist heute so viel liberaler und toleranter, als es je war. Dass dies den Ewiggestrigen nicht passt und sie gerade deshalb lauter und extremer werden, überrascht letztlich nicht. Das Grundgesetz wird auch diese Herausforderung bestehen.