Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Entscheidungsschlacht um Idlib tobt
Hunderttausende sind in der syrischen Provinz auf der Flucht – Kontroverse um möglichen neuen Chlorgasangriff
ISTANBUL - Der Rettungswagen hält in einer Straße voller zerschossener Häuser, die Helfer ziehen einen Schwerverletzten aus einem zerstörten Hauseingang: Ein Video der Hilfsorganisation der „Weißen Helme“aus der nordwestsyrischen Kleinstadt Maarat al-Numan dokumentiert, welche Folgen die eskalierenden Luftangriffe im Nordwesten Syriens haben.
Mehrere Städte in und um die Provinz Idlib lagen am Mittwoch unter schwerem Beschuss, mindestens ein Dutzend Menschen starben. Die USRegierung sprach sogar vom Verdacht eines neuen Giftgaseinsatzes: Die Entscheidungsschlacht um die letzte Rebellenhochburg in Syrien hat begonnen. „Unsere schlimmsten Befürchtungen werden wahr“, sagte UN-Sprecher David Swanson.
Schon seit mehreren Wochen greifen die syrische Armee und ihre russischen Verbündeten in Idlib wieder stärker an. Sie begründen dies mit dem Kampf gegen islamistische Extremisten, die immer wieder syrische Stellungen und russische Militäranlagen attackieren.
Offiziell gilt immer noch ein Waffenstillstand vom vorigen September, doch die Abmachung steht nur noch auf dem Papier. Die Islamisten lehnen den Abzug aus einer damals vereinbarten Pufferzone ab, und der syrische Präsident Baschar al-Assad will Idlib und alle anderen Teile von Syrien nach mehr als acht Jahren Krieg wieder unter seine Kontrolle bringen.
Laut der US-Regierung gibt es „Anzeichen“, dass Assads Armee erneut chemische Waffen eingesetzt habe. Zuletzt soll bei Gefechten am vergangenen Sonntag Chlorgas zum Einsatz gekommen sein. In den vergangenen Jahren hatten die Amerikaner nach Giftgas-Einsätzen zweimal syrische Armee-Einrichtungen bombardiert.
Auch ohne Giftgas sind die Kämpfe brutal. Raketen, Fassbomben, Panzer, Panzerfäuste und Sprengfallen kommen zum Einsatz. Islamistische Rebellen schicken zudem Selbstmordattentäter in Bomben-Fahrzeugen in die Stellungen ihrer Gegner. Auf Zivilisten achtet keine der beiden Seiten. Am Mittwoch griffen Kampfflugzeuge unter anderem die Stadt Dschisr al-Schugur in Idlib an, die nur zehn Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt. An der – derzeit geschlossenen – Grenze lagern mehrere hunderttausend Menschen, die vor den Gefechten in anderen Teilen Idlibs geflohen sind.
Dass sie in ihre Städte und Dörfer in der Provinz heimkehren können, wird immer unwahrscheinlicher. Die „Weißen Helme“berichten von gezielten Luftangriffen der Syrer und Russen auf Kornfelder: Mit dieser Taktik der verbrannten Erde soll die Nahrungsmittelversorgung für die Menschen zerstört werden.
Auch Schulen und Krankenhäuser werden bombardiert. In Maraat al-Numan starben am Dienstagabend mindestens zwölf Zivilisten bei Luftangriffen, die nach dem Fastenbrechen begannen: zu einer Zeit, wenn besonders viele Menschen auf den Straßen sind.