Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Zügig durch Europa
Mit Interrail bekommt auch ein Familienurlaub ganz andere Akzente
Auch Interrail-Angebote haben Europa zusammengeführt und dazu beigetragen, den Horizont zu erweitern. Was früher vor allem die junge Generation auf die Schienen gebracht hat, ist längst auch zur Alternative für ein Familienerlebnis geworden.
Endlich unterwegs – noch dazu so komfortabel und rasend schnell. Der ICE rauscht mit Tempo 200 Richtung Amsterdam, der ersten Station des Familientrips durch Europa. Nun hat sich seit der eigenen Studentenzeit einiges verändert. Die Spontanität ist etwas verloren gegangen, auch weil Schnellzüge wie der TGV oder der italienische Frecciarossa trotz Interrail-Ticket kostenpflichtig reserviert werden müssen. Das hat bei der Planung viel Zeit und Nerven gekostet hat. Dazu die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten eines InterrailGlobal-Passes, der in 31 Ländern gilt. Was wurden im Familienrat nicht alles für Routen quer durch den Kontinent diskutiert, beschlossen und dann doch wieder verworfen, um Europa besser kennenzulernen. Aber jetzt sind die Schnellzüge und Fähren reserviert und die Unterkünfte für die nächsten knapp vier Wochen gebucht – in Amsterdam, Edinburgh, Mallaig an der schottischen Westküste, in London und in Lyon, auf Korfu und in Ancona. Ein ambitioniertes Vorhaben finden die Skeptiker im Freundeskreis. Wenn schon, denn schon lautet unsere InterrailDevise.
Noch fünf Stunden bis Amsterdam. Die Töchter – 12 und 16 – haben sich dank Smartphone und Kopfhörer in die digitale Welt verabschiedet. Ihre Mutter schmökert in ihrem Krimi. Zeit für den Vater, mal kurz die EMails zu checken. Fünf neue Nachrichten – eine von Airbnb. „Bernard hat deine Buchung für heute storniert“, lautet die schockierende Botschaft. Bernard, das ist der Besitzer des hübschen Hausboots, auf dem wir in Amsterdam stilecht zwei Nächte verbringen wollten. Ein reger E-Mail-Verkehr beginnt und endet mit der Buchung eines Alternativvorschlags am schmucklosen Stadtrand von Amsterdam, immerhin aber mit einer Straßenbahnhaltestelle vor der Tür.
Schnell ist der Ärger verflogen, als wir zur goldenen Stunde im Wasserbus durch die Grachten schippern, dabei die letzten Sonnenstrahlen und den Charme dieser einzigartigen Stadt genießen. Zwei Tage Amsterdam, mit Walking-Stadtführung, van Gogh-Museum und Bummeln – dann bringt uns der Bus zum Hafen. Ein Sturm zieht auf – ausgerechnet vor der großen Schiffspassage in den Norden Großbritanniens. Vielleicht wäre die Zugfahrt unterm Ärmelkanal doch die bessere Variante gewesen.
Einige Fähren sind im Interrail-Ticket enthalten – die Überfahrt von Amsterdam nach Newcastle nicht. Und trotzdem ist sie eine attraktive Alternative für die Reise nach Schottland. Der Preis für die Fähre ist ähnlich hoch wie die Reservierungsgebühr für den Eurostar-Zug von Brüssel nach London samt Kosten für eine Übernachtung dort. Letztere spart man sich mit der 17stündigen Seereise mit Ankunft am nächsten Morgen in Newcastle.
Bester Bordservice
Knapp eineinhalb Stunden sind es mit dem Schnellzug von Newcastle nach Edinburgh. Die Strecke führt immer wieder am Meer entlang, vor dem Kühe und Schafe friedlich grasen. Zuschauen, entspannen, nachdenken. Großbritannien ist für Bahnreisende im Allgemeinen und für Interrailer im Speziellen ein echtes Vergnügen. Der Bordservice ist bestens – vor allem in der ersten Klasse. Und anders als in Italien und Frankreich müssen die Plätze in den Schnellzügen nicht gebührenpflichtig reserviert werden.
Edinburgh stand beim jüngsten Familienmitglied weit oben auf der Wunschliste. Hier hat sich J.K. Rowling inspirieren lassen, unter anderem auf dem Greyfriars Kirkyard. Der Friedhof ist ein Muss für jeden Harry Potter-Fan. Wir stehen vor den verwitterten Grabsteinen von Thomas Riddle und dem Poeten William McGonagall – wenn die Herren wüssten, welche Berühmtheiten sie dank Rowlings Namensklau heute sind. Später sitzen wir im „Elephant House“, einem gemütlichen Café, und trinken an jenem Tisch Tee, an dem Rowling an einem ihrer ersten Harry Potter-Bände geschrieben hat.
Für den Vater folgt an Tag vier des Schottland-Aufenthalts sein persönliches Interrail-Highlight: die Zugfahrt durch die Highlands. Knapp sechs Stunden braucht der „Super Sprinter“für die 264 Kilometer von Glasgow bis Mallaig an der Westküste – ein Fest für die Augen. Die West Highland Line gilt als eine der schönsten Zugstrecken der Welt: Hochmoore mit Moosen in spektakulärem Farbspiel, raue, kahle Berge, tiefblaue Seen und zerklüftete Küste – es könnte ewig so weitergehen.
Mallaig – welch Kontrast zu Amsterdam oder Edinburgh. Mallaig ist ein ehrlicher Ferienort, mit einer Werft an der Uferpromenade, rostigen Fischkuttern im kleinen Hafen und einer Handvoll Pubs, in denen die wenigen Urlauber neben den Einheimischen Haggis und ein Pint Bier genießen. Kein Wunder, dass hier in der Umgebung mehrere Szenen für den Kultfilm „Local Hero“gedreht worden sind.
Kaum Verspätungen
Es fällt schwer, nach dreieinhalb Tagen die schöne kleine Welt von Mallaig zu verlassen. Knapp 12 Stunden Zugfahrt durchs Vereinigte Königreich liegen vor uns. Geplante Ankunft in London King's Cross: 21.38 Uhr, mit Umsteigen in Glasgow und Edinburgh – Verspätungen darf es keine geben. Reicht schon, dass erneut eine Unterkunft am Anreisetag storniert wird. Immerhin ist die britische Bahn pünktlich. Auch in Frankreich und Italien werden wir alle unsere Bahnhofswelten: Trotz enger Zeitpläne hat alles während der vier Wochen geklappt.
Züge erreichen. Maximal zehn Minuten Verspätung in knapp vier Wochen – damit hatten wir als Dauerbahnfahrer nicht gerechnet.
Viele der alten englischen Bahnhöfe sind mit ihrem gelungenen Mix aus Backstein, Stahl und Glas sehenswerte Baudenkmäler – einer davon ist King's Cross in London. Wieder ein Hotspot für Harry Potter-Fans, weil hier der Hogwarts-Express im Film abfährt, vom geheimnisvollen Gleis 9 ¾. Um das zu erreichen, müssen Harry Potter und die anderen Zauberlehrlinge durch eine Wand schlüpfen. Daraus hat sich eine Touristenattraktion entwickelt. Tagtäglich lassen sich Tausende vor einer Backsteinmauer in der Bahnhofshalle ablichten, an der das Vorderteil eines Gepäckwagens befestigt ist – so als würde er gerade in der Wand verschwinden.
London ist nur ein kurzer Zwischenstopp mit einer Übernachtung. Schwer beeindruckt stehen wir am nächsten Morgen vor dem St. Pancras-Bahnhof – ein Prachtbau, dessen viktorianische Architektur an eine Kathedrale erinnert. In der 70 Meter So ist Europa: Gleis 9 ¾ im Bahnhof King’s Cross, schottische Schafe, Grachten in Amsterdam. breiten, lichtdurchfluteten Halle startet der Eurostar nach Paris. Gerade mal zwei Stunden und fünfzehn Minuten dauert die Fahrt in die französische Hauptstadt. Am Gare du Nord wartet eine knifflige Aufgabe, der Transfer zum Gare de Lyon und zwar möglichst schnell, um dort den gebuchten TGV nach Lyon noch zu erreichen. Regionalzug, Metro, welches Gleis, welche Linie? Habib, ein junger Afghane, bietet sich spontan als Guide durch den Pariser MetroDschungel an. Wir rennen hinter ihm her, kriechen unter Drehkreuzen hindurch, vertrauen ihm blind bei der Wahl der Metrolinien und kommen tatsächlich rechtzeitig am Gare de Lyon an. Es sei ihm eine Ehre gewesen, betont Habib, der als Flüchtling in Paris gestrandet ist, als wir uns bedanken. So plötzlich er aufgetaucht war, so schnell verschwindet Habib wieder im Menschenstrom. Wir frönen in Lyon dem Savoir-Vivre, schlendern durch das Vieux Lyon, eine der größten erhaltenen Renaissance-Altstädte Europas, und tauchen im Römischen Museum in die Antike ein. Zu einer Interrail-Reise gehört auch eine Fahrt im Nachtzug. Es gibt Familienmitglieder, die auf ihren schmalen Pritschen kaum ein Auge zugemacht haben. Andere behaupten, sie hätten selten so gut geschlafen. Entsprechend unterschiedlich ist die Stimmungslage bei der Ankunft in Ancona. Sie reicht von physischer und psychischer Reisemüdigkeit bis hin zu großer Vorfreude aufs nächste Abenteuer, die Fährfahrt, mit anschließenden Entspannungstagen auf Korfu. Bei harmlosem Seegang spielen wir auf Deck so lange Karten, bis uns die Augen zufallen – die beste Vorbereitung für eine Nacht im Schlafsessel.
Müde und zerknittert erreicht die Reisegruppe nach fast 48-stündiger Anfahrt per Zug, Schiff und Bus das Hostel an Korfus Westküste. Spätestens jetzt kennen die Kinder den Unterschied zwischen Reisen und Urlaub machen. Aber welch ein Blick von der Terrasse übers tiefblaue Meer – als wäre hier der Film „Mamma Mia“gedreht worden. Und das Frühstück mit Aussicht ist nach Meinung der Kinder nicht zu toppen.
Noch heute schwärmen sie davon. Genauso wie von den handgemachten Pommes in Amsterdam, den blökenden Schafen an schottischen Stränden, Gleis 9 ¾ in London King's Cross, dem Sieben-Uhr-Frühstück in der imposanten Bahnhofshalle von Milano Centrale, dem Dorfplatz von Liapades, der griechischer nicht sein könnte.
Alle Eindrücke hat die ältere Tochter in einem Reisetagebuch festgehalten. 116 Seiten sind es am Ende geworden. Klar ist auch: Lieber heute als morgen noch mehr in Europa entdecken.