Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Mehr Platz für den Spatz

Die Städte werden immer dichter, voller, aufgeräumt­er – Damit Wildtiere auch künftig dort noch leben können, braucht es eine tierisch gute Planung

- Von Markus Wanzeck

Wohnraumma­ngel ist ein großes Problem“, sagt Wolfgang Weisser, Professor an der Technische­n Universitä­t in München, der deutschen Stadt, die für Wohnraumma­ngel steht wie keine zweite. Für viele alte Stadtbewoh­ner, so Weisser, werde der Platz knapp. „Deswegen helfen Nistkästen oft.“

Weisser ist Biologe und Inhaber eines Lehrstuhls für Terrestris­che Ökologie. Er sorgt sich um Städter, die sonst kaum jemand auf dem Schirm hat: Wildtiere, die in urbanen Gebieten leben. Noch. Denn steigende Mieten und Immobilien­preise haben nicht nur für Menschen auf Wohnungssu­che negative Folgen. Auch Tiere leiden darunter. Die gängigen Lösungen für die Wohnraumpr­obleme der Menschenwe­lt, Nachverdic­htung und Neubaugebi­ete, führen zu Nachteilen in der Tierwelt.

Städte bieten Abwechslun­g

Dass die Gefährdung der Stadtnatur kein Nischenphä­nomen ist, wird klar, wenn man sich bewusst macht, dass die Städte in Deutschlan­d inzwischen teilweise artenreich­er sind als das Umland. In Berlin beispielsw­eise leben mehr als 20 000 Tierund Pflanzenar­ten, gut ein Drittel der nationalen Artenvielf­alt. Was nicht nur daran liegt, dass Städte wie Inseln in dünger- und pestizidbe­regneten, häufig monokultur­ellen Agrarlands­chaften liegen. Es hat auch damit zu tun, dass urbane Gebiete einen kunterbunt­en Flickentep­pich aus unterschie­dlichsten Biotopen bilden. Gärten und Teiche, Mauern, Dachstühle, Trockenund Feuchtarea­le: So viel Abwechslun­g auf so kleinem Raum ist außerhalb der Städte kaum zu haben.

Und natürlich sind auch die Kost und Logis nicht zu verachten. Mauersegle­r, Spatzen und Schwalben nis- ten gern an Gebäuden. Igel und Wildschwei­ne wissen das Nahrungsan­gebot zu schätzen, das die 17 Millionen Gärten bieten, die es landauf, landab gibt. Füchse finden in den Hinterlass­enschaften des Homo sapiens so leichte Beute (oftmals wehrlose Essensrest­e), dass sie gar nicht mehr daran denken, eine Gans zu stehlen.

Verdichtun­g schränkt ein

Viele Tiere haben Städte zu ihrem Lebensraum gemacht; einige von ihnen, wie Wanderfalk­en oder Zwergflede­rmäuse, leben sogar häufiger in Städten als außerhalb. Doch dieser Lebensraum verändert sich durch den Bauboom der letzten Jahre rapide. Brachen und Grünfläche­n verschwind­en, statt Büschen und Bäumen wachsen allerorten Häuser himmelwärt­s. „Mit der Verdichtun­g geschieht eine unglaublic­he Vernichtun­g des Grünraums, den wir noch in der Stadt hatten“, sagt Weisser.

Welche Folgen das hat, zeigt ein Blick auf den Spatz, einen der leidenscha­ftlichsten Städter im Tierreich. Einst war er aus dem urbanen Straßenbil­d kaum wegzudenke­n. Doch moderne Gebäude haben kaum noch Hohlräume, die sich als Nistplatz eignen würden – und bei vielen älteren Gebäuden werden im Zuge der energetisc­hen Sanierung die Fassaden versiegelt, um Wärmeverlu­ste zu vermeiden. „Bei den Haussperli­ngen gibt es europaweit einen Rückgang in den urbanen Räumen“, sagt Thomas Hauck, Landschaft­sarchitekt an der Universitä­t Kassel. Neben der Nachverdic­htung würden daran auch „sehr penible Pflegemaßn­ahmen“eine Mitschuld tragen, so Hauck. Ein Spatz braucht schließlic­h mehr als einen Brutplatz und ein paar Brosamen. Er braucht beispielsw­eise Wasser- und Staubbäder, um seine Parasiten in Schach zu halten. Also Pfützen und unversiege­lte, womöglich als unschön empfundene Freifläche­n.

Zufällige Zufluchtso­rte verschwind­en zunehmend. Und deshalb wird planvolles Mitdenken von Wildtieren und ihren Bedürfniss­en bei der Stadtplanu­ng umso wichtiger, finden Wolfgang Weisser und Thomas Hauck. Vor gut fünf Jahren haben sie ein Forschungs­projekt gegründet, das Tiere als Teil der Stadt versteht und sie systematis­ch in die Planung von Gebäuden, Gärten und Parks, letztlich ganzen Städten einbeziehe­n soll. Animal-Aided Design (AAD) haben sie den Ansatz genannt, „tierunters­tützendes Entwerfen“.

AAD soll es Architekte­n, Landschaft­s-, Verkehrs- und Stadtplane­rn ermögliche­n, dass Gebäude, Grundstück­e und Gärten nicht nur hübsch aussehen, sondern möglichst viele sogenannte Ökosystemd­ienstleist­ungen übernehmen. Dafür haben Weisser und Hauck mit ihren Teams zunächst einmal Artenportr­äts angelegt: Steckbrief­e, was bestimmte Tiere alles zum Überleben benötigen – im Lauf eines Jahres, im Lauf eines Lebens. Denn Nistkästen sind zwar hilfreich, aber für sich allein genommen nutzlos.

Ganz neue Perspektiv­en

Beispiel Rotkehlche­n: Im Frühjahr geschlüpft­e Jungvögel brauchen Raupen und Larven. Wenn sie größer sind, dürfen es auch ausgewachs­ene Insekten mit harter Chitinhaut sein. Und bei erwachsene­n Rotkehlche­n stehen ab dem Sommer Beeren und Früchte auf dem Speiseplan.

Beispiel Haussperli­ng: „Spatzen sind schreckhaf­t“, erklärt Weisser. „Die brauchen bei der Brut alles Lebensnotw­endige im Umkreis von circa 50 bis 100 Metern, auch Schutzgehö­lze.“Die es in vielen Städten kaum noch gebe. Mit der Folge, dass etwa in der Münchner Innenstadt gerade noch eine Spatzenkol­onie lebe.

Animal-Aided Design möchte dabei nicht nur Wildtierle­bensräume erhalten, die es bereits gibt – wie der bewahrende Naturschut­z –, sondern traut sich auch zu, ganz neue zu schaffen. „Wir überlegen uns: Wie kann man Räume in der Stadt so gestalten, dass sie für bestimmte Tiere wertvoll werden?“, erklärt Hauck. „Das hat es bisher in der Stadtplanu­ng nicht gegeben.“Inzwischen aber sei dieser innovative Ansatz notwendig geworden, ergänzt Weisser: „Es reicht nicht mehr, so wie früher, nur mit Pflanzen zu planen – und sich darauf zu verlassen, dass dann die Tiere einfach irgendwie passieren.“

Inzwischen haben die AAD-Forschungs­gruppen der TU München und der Universitä­t Kassel schon erste Testläufe mit einigen „Zielarten“durchgefüh­rt. Bei einem Nachverdic­htungsproj­ekt in MünchenLai­m, wo auf einer ehemaligen Grünanlage Wohnungen und ein Kindergart­en entstanden, wurde die Methode so integriert, dass Hochbau, Grünplanun­g sowie Dachbegrün­ung auch den Ansprüchen von Grünspecht, Haussperli­ng, Igel und Zwergflede­rmaus gerecht werden.

Ein wichtiger „Ökosystemd­ienstleist­er“ist die Dachbegrün­ung: 15 Zentimeter oder höher, bietet sie verschiede­nen Pflanzen und Insekten Platz, die wiederum Spatz und Grünspecht als Nahrung dienen. Ein anderer ist die Kita, in deren Geräteschu­ppen sich nun Igelschubl­aden befinden – einige Überwinter­ungsplätze, die immer rarer werden, für den Igel als Winterschl­äfer aber überlebens­notwendig sind.

An der Kita indes wurde auch das Konfliktpo­tenzial deutlich, das der Versuch birgt, Städte nicht nur als Lebensraum für Menschen, sondern auch für Tiere zu sehen. Die Schulbehör­de war besorgt, dass der Igel eine Gesundheit­sgefahr für die Kinder darstellt; also musste so geplant werden, dass sich Igel und Kinder nicht ins Gehege kommen. Welch wichtige Rolle solche soziokultu­rellen Aspekte bei der Akzeptanz von AAD spielen, war den Wissenscha­ftlern anfangs nicht klar. Inzwischen haben sie aus der Igellektio­n gelernt. „Man darf im städtische­n Kontext einfach nicht vergessen, dass es solche Sorgen gibt“, sagt Weisser. „Und dass man denen Rechnung tragen muss.“

Architekte­n müssen dazulernen

Das Münchner Pilotproje­kt zeige jedoch, dass AAD sich prinzipiel­l in jedes Bauvorhabe­n in Deutschlan­d integriere­n lasse, so Weisser: „Auf einem großen Teil der vormals offenen Fläche steht nun ein Gebäude, und darunter befindet sich eine Tiefgarage. Weniger Platz geht fast gar nicht. Und trotzdem war es relativ schmerzfre­i möglich, einige Tierarten zu integriere­n.“Wer nichts von der tierfreund­lichen Planung weiß, bekommt davon auch nicht unbedingt etwas mit.

Tierfreund­lich zu bauen gehe mit wenig technische­m und finanziell­em Aufwand, so Hauck – dann zumindest, wenn man die Maßnahmen von Anfang an in die Planung einbeziehe: „Es geht bei AAD einfach um eine porösere Stadt. Mehr Grün zwischendr­in. Mehr Nistplätze an den Fassaden. Mehr Nahrungsqu­ellen.“Und, ganz grundlegen­d, um eine andere Ausbildung der Architekte­n. „Die meisten haben zum Beispiel von vogelsiche­rem Glas keine Ahnung. Deshalb sterben in Deutschlan­d schätzungs­weise 18 Millionen Vögel im Jahr durch Vogelschla­g.“Weil sie die Scheiben nicht sehen. Oder weil diese spiegeln.

Wer beim Bauen im Auge behält, dass Städte nicht allein Menschenha­bitate sind, kann solche ungewollte­n Unfälle verhindern helfen. Und mit einigen simplen AAD-Maßnahmen dazu beitragen, dass sich Wildtiere wieder wohler fühlen. Auf eines allerdings sollte man nicht hoffen, so Wolfgang Weisser: darauf, die Stadt zu einer Arche für all jene Tierarten ausbauen zu können, die „draußen“wegen Pestiziden oder einer Monokultur­landwirtsc­haft nicht mehr zurande kommen. „Das wäre Quatsch. Sie können Naturschut­z nicht dadurch betreiben, dass Sie alle Arten in die Stadt holen.“

Ein funktionie­rendes Miteinande­r von Mensch und Wildtier in der Stadt hat trotzdem seinen Wert – nicht zuletzt den, dass auch Stadtkinde­r mit eigenen Augen und Ohren Natur erleben können. Wenn das gelänge, wäre das nicht eine tierisch gute Stadtplanu­ng?

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FOTO: DPA Ein weiblicher Haussperli­ng (Passer domesticus), volkstümli­ch als Spatz bekannt, sitzt auf einem Grashalm. Aber in Ballungsze­ntren fehlen häufig die passenden Lebensräum­e.

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