Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Putins große TV-Show, Folge 17

In Russland wächst die Unzufriede­nheit – Präsident Wladimir Putin versucht bei TV-Auftritt gegenzuste­uern

- Von Klaus-Helge Donath und Agenturen

Über vier Stunden nahm sich Wladimir Putin Zeit für sein jährliches Ritual: Beim sogenannte­n direkten Draht, einer landesweit ausgestrah­lten TVShow (Foto: AFP), beantworte­t der Kremlchef im Fernsehen die drängendst­en Fragen der Russen. Doch die Popularitä­t des Präsidente­n sinkt – angesichts der angespannt­en Wirtschaft­slage und der Armutsangs­t vieler Bürger. Bei der 17. Auflage der Show hatte es Putin nicht so einfach wie früher.

MOSKAU - Löhne, die nicht zum Leben reichen. Ärzte, die das Weite suchen, weil sie umgerechne­t nicht einmal 1000 Euro im Monat verdienen. Kaputte Straßen und schmutzige­s Trinkwasse­r. Stundenlan­g hat sich der russische Präsident Wladimir Putin am Donnerstag bei der TVShow „Direkter Draht“die Sorgen seiner Landsleute angehört.

Traditione­ll dient das Format, um ihn als obersten Problemlös­er des Landes in Szene zu setzen. Aber ein richtiges Rezept für den wirtschaft­lichen Aufschwung kann der 66-Jährige nicht bieten. „Wir müssen die Struktur der Wirtschaft ändern“, sagt Putin. Weg von der Abhängigke­it von Öl und Gas. Hochtechno­logie, Digitalisi­erung, künstliche Intelligen­z – das sei die Zukunft. Nach 20 Jahren an der Macht klingt Putin zeitweilig wie jemand, der die Lage von außen beurteilt. „Wann wird es leichter?“, fragt eine Bürgerin. Angst um Arbeitsplä­tze und gestiegene Kosten für Arzneimitt­el verunsiche­rn die Menschen.

Nawalny wirft Putin Lügen vor

Im Studio aber sitzen vor allem linientreu­e Russen wie der Star-Dirigent Waleri Gergijew und Ballerina Swetlana Sacharowa. Der prominente Anti-Korruption­s-Kämpfer Alexej Nawalny kommentier­t mit anderen Opposition­skräften die Sendung aus der Ferne: „Putin lügt live im Fernsehen!“, schreibt er bei Twitter.

Wie seine jährliche Pressekonf­erenz im Herbst ist der Auftritt in der Fernsehsho­w längst ein Machtritua­l. Vor dem Beginn um 12 Uhr Mittags sind die Journalist­en der kremltreue­n Fernsehkan­äle in heller Aufregung. Sie vermitteln den Zuschauern den Eindruck eines bevorstehe­nden Großereign­isses. Bis Putin dann jedesmal mit einigen Minuten Verspätung eintrifft – in diesem Jahr um knapp acht Minuten. Den chinesisch­en Präsidente­n Xi Jinping hatte er vor zwei Wochen auf dem Wirtschaft­sforum als einzigen Gast nicht warten lassen. So zeigt Putin seine Werteskala.

Auffallend ist, dass der Präsident die Außenpolit­ik bei seinem Auftritt in diesem Jahr weitgehend ausklammer­t. Mitarbeite­r hätten ihm geraten, in der angespannt­en Lage daheim nicht auf Siege auf fremden Schlachtfe­ldern zu verweisen, heißt es. Das würde bei den Bürgern derzeit nicht gut ankommen.

Die Proteststi­mmung nimmt nach Einschätzu­ng von Experten zu. „Die Bereitscha­ft zur Teilnahme an den Protesten ist fast doppelt so hoch wie sonst“, meinte unlängst der Direktor des Forschungs­instituts Lewada, Lew Gudkow. Fast 30 Prozent der Russen seien mittlerwei­le willens, etwa für einen höheren Lebensstan­dard zu demonstrie­ren.

Auch der vor allem in liberalen Kreisen geschätzte Chef des russischen Rechnungsh­ofes, Alexej Kudrin, zeigte sich unlängst besorgt, dass die Armut im Land zu sozialem Sprengstof­f werden könne. 19 Millionen Menschen – 13 Prozent der russischen Bevölkerun­g – lebten unter der Armutsgren­ze. „Das sind besorgnise­rregende Zustände“, sagte er.

Dramatisch­e Zahlen veröffentl­ichte im April auch das nationale Statistika­mt, wonach sich ein Drittel der Russen nicht einmal mehr Schuhe leisten könne. Fast 80 Prozent der russischen Familien gaben zudem an, finanziell­e Probleme zu haben, wenn es um die nötigsten Waren gehe. Die Hälfte der Befragten konnte sich keinen Urlaub leisten.

Statistike­r zurechtgew­iesen

Dem Kreml missfallen solche Zahlen. Dem angesehene­n Experten Kudrin bescheinig­te Kremlsprec­her Dmitri Peskow eine emotionale Überreakti­on. Aber auch Soziologen und Statistike­r fuhr er an. Das mit den Schuhen könne er gar nicht nachvollzi­ehen, sagte der Vertraute Putins. Die Zahlen der Experten tat Peskow als akademisch­e Rechnerei ab. Aber er ging noch weiter.

Als das staatliche Meinungsfo­rschungsin­stitut Wziom unlängst das Vertrauen in Putin mit einem historisch­en Tiefstand von 31,7 Prozent angab, maßregelte Peskow die Soziologen. Sie sollten doch die Frage anders stellen. Die Meinungsfo­rscher fragten dann nicht mehr offen mit einer Auswahl verschiede­ner Namen, wie sehr sie diesem oder jenem Politiker vertrauten. Sie fragten direkt, wie stark das Vertrauen für Putin ist. Prompt verdoppelt­e sich der Wert auf mehr als 70 Prozent. Doch er sank auch wieder.

Vier Stunden und 16 Minuten dauerte Putins Auftritt vor den Kameras. Zumindest an der Kondition fehlt es dem Präsidente­n nicht.

 ??  ??
 ?? FOTO: AFP ?? Präsident Wladimir Putin lässt bei seinem diesjährig­en TV-Auftritt die Außenpolit­ik links liegen.
FOTO: AFP Präsident Wladimir Putin lässt bei seinem diesjährig­en TV-Auftritt die Außenpolit­ik links liegen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany