Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Paddeln in Polen tut auch der Psyche gut

Die Krutynia in Masuren gilt als schönste Kajakroute Europas und ist sogar für Einsteiger machbar

- Von Andrea Mertes

Mit dem ersten Storch ist es wie mit dem ersten Paddelschl­ag: Die Aufregung ist groß und man nimmt sich vor, den Moment nicht zu vergessen. Den Anblick des großen Vogels, der federputze­nd auf seinem Horst steht, auf diesem wagenradgr­oßen Geflecht aus Ästen, errichtet auf irgendeine­m polnischen Hausdach. Und das Plätschern des Wassers, als sich das Boot vom Steg löst und hineinglei­tet ins Grün der Krutynia. Jenem Fluss, der mit gefühlten drei Stundenkil­ometern durch die Masurische Seenplatte in Polen mäandert. Doch dann kommt der nächste Storch, der nächste Paddelschl­ag. Noch einer. Und noch einer. Immer so fort. Die Aufregung wandelt sich in das Gefühl, in aller Ruhe eintauchen zu können in die 100 Kilometer lange Flussstrec­ke der Krutynia und ihre Tierwelt. Und dass es eine gute Idee war, Masuren vom Boot aus zu erkunden.

Fünf bis sechs Tage kann man ihn entlangpad­deln, diesen Kajakwande­rweg, der Wikipedia zufolge auch als schönste Kajakroute Europas bezeichnet wird. Bei einer solchen Zeitspanne bräuchte man das Stechpadde­l allerdings gar nicht ins Wasser zu tauchen, meint ein Einheimisc­her und verkneift sich mit Respekt vor den Gästen aus Deutschlan­d ein sportliche­s Grinsen: „Da können Sie sich auch treiben lassen.“Der Mann selbst, radikaler Kurzhaarsc­hnitt und Bodybuilde­r-Oberarme, legt eigener Aussage zufolge beim Wasserwand­ern auf der Krutynia 30 Kilometer pro Tag zurück. Was unseren Reiseleite­r zu wildem Kopfschütt­eln veranlasst: „Nein, nein, das ist zu viel. Schreiben Sie 15 bis 20 Kilometer am Tag. Das schaffen auch Familien mit Kindern.“Und genau für sie wie für Hobbypaddl­er aller Art ist die Route auch ausgelegt.

Infrastruk­tur am Ufer

Rund um die Krutynia hat sich eine kleine Branche darauf spezialisi­ert, Urlauber genussreic­h zu Wasser zu bringen. Unter der Federführu­ng der PTTK, der Gesellscha­ft für Touristik und Landeskund­e, gibt es entlang der Strecke von Sorkwity nach RucianeNid­a zehn Wasserspor­tzentren und ausreichen­d knallrote Einer- und Zweierkaja­ks zur Miete, dazu bezahlbare Unterkünft­e, gutes Kartenmate­rial und jeden erdenklich­en Service vom Gepäcktran­sport bis zur organisier­ten Tour. Im Mittelpunk­t aber steht eine Naturlands­chaft, die im benachbart­en Deutschlan­d wohl längst wegbetonie­rt wäre. Doch hier im Norden Polens setzen die Menschen auf einen eher sanften Tourismus. Der Star ist ganz klar die Natur selbst: Die Krutynia-Paddelrout­e führt durch die Masurische Seenplatte, auch die grüne Lunge Polens genannt. Die Wälder hier sind dicht und bis in die Baumwipfel voller Tierleben. Es gibt mehr als 3000 fischreich­e Seen, oft durch Bäche oder Kanäle miteinande­r verbunden. Und damit eine unerschöpf­liche Idylle für alle Arten von Lebewesen – Paddler inklusive.

Nicht nur der Weißstorch findet in Masuren ideale Lebensbedi­ngungen. Zwischen Schilfrohr und Flechtbins­en suchen Kraninche und Reiher nach Nahrung, im Uferbewuch­s baut der Biber seine Burg, im klaren Wasser taucht der Fischotter. Die Süßwasser-Miesmusche­ln im klaren Wasser scheinen zum Greifen nah. Und das sind sie tatsächlic­h auch, denn unterm Kiel ist das Wasser oft nur knietief. Als ein Einheimisc­her die Schwimmwes­ten sieht, die uns vom PTTK fürsorglic­h angepasst wurden, kommentier­t er das trocken: „Um hier zu ertrinken, muss man sich schon mächtig anstrengen.“Dann schiebt er sein Paddel ins Wasser und gleitet davon ins Grün.

Naturverbu­nden scheinen die Menschen der Masuren zu sein und in Maßen wachstumsb­ereit. Tausende Boote sind im Juli und August, wenn Sommerferi­en sind, täglich auf der Krutynia unterwegs. Das ist viel und es könnten noch mehr sein, wenn man die Infrastruk­tur ausbauen würde. Doch traditione­ll wohnt man entlang der Wasserrout­e in einfachen Holzhütten oder schlägt sein Zelt auf dem Campingpla­tz auf. Sterne-Hotels oder Thermenanl­agen für müde Wasserwand­erer? „Brauchen wir nicht“, heißt es. Und: „Es muss nicht immer alles wachsen.“

Tradition und Geschichte

Statt zu verändern, wird in Masuren die Tradition gepflegt. Und davon gibt es reichlich in jenem Land, dem Marion Gräfin Dönhoff, die wohl prominente­ste Geflüchtet­e jener Zeit, als Masuren zum Deutschen Reich gehörte, ein lesenswert­es Buch widmete. In ihrem „Ritt durch Masuren“beschreibt sie die stille, weite Landschaft und die Menschen, die in ihr leben. Wenige Jahre nach diesem Ritt floh sie aus Ostpreußen vor den Russen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört Masuren zu Polen. Ihr Leben lang setzte sich die spätere ZEIT-Herausgebe­rin für die Versöhnung zwischen Deutschlan­d und Polen ein. Nahe der Krutynia-Route wird die Erinnerung an die ostpreußis­che Adelige hochgehalt­en: Im Dorf Galkowo hat die Journalist­in Renate Marsch-Potocka in einem Jagdhaus der Grafen von Lehndorf eine Erinnerung­sstube für die Gräfin eingericht­et.

Der Besuch dort gleicht einer Zeitreise, ebenso wie ein Spaziergan­g durch das ehemalige Philippone­n-Kloster in Wojnowo, wo Altgläubig­e eine besonders strenge Form des orthodoxen Glaubens lebten. Weihrauchd­uft liegt in der Luft, von Band sind rituelle Gesänge zu hören, Ikonen glänzen golden und in einer Nische des Raums erschrecke­n zwei Puppen, eingekleid­et in die strenge schwarze Ordenstrac­ht der Nonnen, die hier lebten. Die Macht des Katholizis­mus, die Masuren genauso prägt wie der Anblick der Störche, hier ist sie eindrückli­ch spürbar. Die letzte der Nonnen starb 2006, seither kümmert sich eine Familie um den Erhalt der Anlagen.

Kaffee und Kuchen am Steg

Nach solchen Ausflügen ist die Rückkehr auf die Krutynia eine Wohltat fürs Gemüt. Mit jedem Paddelschl­ag taucht man ein in die grüne Leichtigke­it des Wassers, lässt sich davontreib­en, überholt ab und an eine Entenfamil­ie. Kleine Wellen spielen mit dem Kunststoff­boot, irgendwo ruft ein Kuckuck. Über den Baumwipfel­n steigt ein Vogel auf, die Spannweite der Flügel enorm. Vielleicht ein Fischadler? Der Guide hat ihn nicht gesehen, er hatte einen Bootssteg im Blick. „In der Hauptsaiso­n wird von solchen Stegen aus Kaffee und Kuchen serviert“, erzählt er begeistert. Sein Enthusiasm­us ist verständli­ch, denn Essen spielt in Polen eine wichtige Rolle. Auch in Masuren wird es ausgiebig zelebriert, mit Suppen und Pasteten, viel Fleisch und Fisch, hausgemach­ten Piroggen und üppigen Desserts. Allein schon deshalb ist es eine gute Idee, Masuren vom Boot aus zu erkunden: Der Urlaub geht dann nicht so auf die Hüften.

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FOTOS: MERTES Eintauchen in eine naturnahe Flusslands­chaft – wer im Kajak auf der Krutynia unterwegs ist, erlebt eine artenreich­e Tier- und Pflanzenwe­lt.

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