Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Paddeln in Polen tut auch der Psyche gut
Die Krutynia in Masuren gilt als schönste Kajakroute Europas und ist sogar für Einsteiger machbar
Mit dem ersten Storch ist es wie mit dem ersten Paddelschlag: Die Aufregung ist groß und man nimmt sich vor, den Moment nicht zu vergessen. Den Anblick des großen Vogels, der federputzend auf seinem Horst steht, auf diesem wagenradgroßen Geflecht aus Ästen, errichtet auf irgendeinem polnischen Hausdach. Und das Plätschern des Wassers, als sich das Boot vom Steg löst und hineingleitet ins Grün der Krutynia. Jenem Fluss, der mit gefühlten drei Stundenkilometern durch die Masurische Seenplatte in Polen mäandert. Doch dann kommt der nächste Storch, der nächste Paddelschlag. Noch einer. Und noch einer. Immer so fort. Die Aufregung wandelt sich in das Gefühl, in aller Ruhe eintauchen zu können in die 100 Kilometer lange Flussstrecke der Krutynia und ihre Tierwelt. Und dass es eine gute Idee war, Masuren vom Boot aus zu erkunden.
Fünf bis sechs Tage kann man ihn entlangpaddeln, diesen Kajakwanderweg, der Wikipedia zufolge auch als schönste Kajakroute Europas bezeichnet wird. Bei einer solchen Zeitspanne bräuchte man das Stechpaddel allerdings gar nicht ins Wasser zu tauchen, meint ein Einheimischer und verkneift sich mit Respekt vor den Gästen aus Deutschland ein sportliches Grinsen: „Da können Sie sich auch treiben lassen.“Der Mann selbst, radikaler Kurzhaarschnitt und Bodybuilder-Oberarme, legt eigener Aussage zufolge beim Wasserwandern auf der Krutynia 30 Kilometer pro Tag zurück. Was unseren Reiseleiter zu wildem Kopfschütteln veranlasst: „Nein, nein, das ist zu viel. Schreiben Sie 15 bis 20 Kilometer am Tag. Das schaffen auch Familien mit Kindern.“Und genau für sie wie für Hobbypaddler aller Art ist die Route auch ausgelegt.
Infrastruktur am Ufer
Rund um die Krutynia hat sich eine kleine Branche darauf spezialisiert, Urlauber genussreich zu Wasser zu bringen. Unter der Federführung der PTTK, der Gesellschaft für Touristik und Landeskunde, gibt es entlang der Strecke von Sorkwity nach RucianeNida zehn Wassersportzentren und ausreichend knallrote Einer- und Zweierkajaks zur Miete, dazu bezahlbare Unterkünfte, gutes Kartenmaterial und jeden erdenklichen Service vom Gepäcktransport bis zur organisierten Tour. Im Mittelpunkt aber steht eine Naturlandschaft, die im benachbarten Deutschland wohl längst wegbetoniert wäre. Doch hier im Norden Polens setzen die Menschen auf einen eher sanften Tourismus. Der Star ist ganz klar die Natur selbst: Die Krutynia-Paddelroute führt durch die Masurische Seenplatte, auch die grüne Lunge Polens genannt. Die Wälder hier sind dicht und bis in die Baumwipfel voller Tierleben. Es gibt mehr als 3000 fischreiche Seen, oft durch Bäche oder Kanäle miteinander verbunden. Und damit eine unerschöpfliche Idylle für alle Arten von Lebewesen – Paddler inklusive.
Nicht nur der Weißstorch findet in Masuren ideale Lebensbedingungen. Zwischen Schilfrohr und Flechtbinsen suchen Kraninche und Reiher nach Nahrung, im Uferbewuchs baut der Biber seine Burg, im klaren Wasser taucht der Fischotter. Die Süßwasser-Miesmuscheln im klaren Wasser scheinen zum Greifen nah. Und das sind sie tatsächlich auch, denn unterm Kiel ist das Wasser oft nur knietief. Als ein Einheimischer die Schwimmwesten sieht, die uns vom PTTK fürsorglich angepasst wurden, kommentiert er das trocken: „Um hier zu ertrinken, muss man sich schon mächtig anstrengen.“Dann schiebt er sein Paddel ins Wasser und gleitet davon ins Grün.
Naturverbunden scheinen die Menschen der Masuren zu sein und in Maßen wachstumsbereit. Tausende Boote sind im Juli und August, wenn Sommerferien sind, täglich auf der Krutynia unterwegs. Das ist viel und es könnten noch mehr sein, wenn man die Infrastruktur ausbauen würde. Doch traditionell wohnt man entlang der Wasserroute in einfachen Holzhütten oder schlägt sein Zelt auf dem Campingplatz auf. Sterne-Hotels oder Thermenanlagen für müde Wasserwanderer? „Brauchen wir nicht“, heißt es. Und: „Es muss nicht immer alles wachsen.“
Tradition und Geschichte
Statt zu verändern, wird in Masuren die Tradition gepflegt. Und davon gibt es reichlich in jenem Land, dem Marion Gräfin Dönhoff, die wohl prominenteste Geflüchtete jener Zeit, als Masuren zum Deutschen Reich gehörte, ein lesenswertes Buch widmete. In ihrem „Ritt durch Masuren“beschreibt sie die stille, weite Landschaft und die Menschen, die in ihr leben. Wenige Jahre nach diesem Ritt floh sie aus Ostpreußen vor den Russen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört Masuren zu Polen. Ihr Leben lang setzte sich die spätere ZEIT-Herausgeberin für die Versöhnung zwischen Deutschland und Polen ein. Nahe der Krutynia-Route wird die Erinnerung an die ostpreußische Adelige hochgehalten: Im Dorf Galkowo hat die Journalistin Renate Marsch-Potocka in einem Jagdhaus der Grafen von Lehndorf eine Erinnerungsstube für die Gräfin eingerichtet.
Der Besuch dort gleicht einer Zeitreise, ebenso wie ein Spaziergang durch das ehemalige Philipponen-Kloster in Wojnowo, wo Altgläubige eine besonders strenge Form des orthodoxen Glaubens lebten. Weihrauchduft liegt in der Luft, von Band sind rituelle Gesänge zu hören, Ikonen glänzen golden und in einer Nische des Raums erschrecken zwei Puppen, eingekleidet in die strenge schwarze Ordenstracht der Nonnen, die hier lebten. Die Macht des Katholizismus, die Masuren genauso prägt wie der Anblick der Störche, hier ist sie eindrücklich spürbar. Die letzte der Nonnen starb 2006, seither kümmert sich eine Familie um den Erhalt der Anlagen.
Kaffee und Kuchen am Steg
Nach solchen Ausflügen ist die Rückkehr auf die Krutynia eine Wohltat fürs Gemüt. Mit jedem Paddelschlag taucht man ein in die grüne Leichtigkeit des Wassers, lässt sich davontreiben, überholt ab und an eine Entenfamilie. Kleine Wellen spielen mit dem Kunststoffboot, irgendwo ruft ein Kuckuck. Über den Baumwipfeln steigt ein Vogel auf, die Spannweite der Flügel enorm. Vielleicht ein Fischadler? Der Guide hat ihn nicht gesehen, er hatte einen Bootssteg im Blick. „In der Hauptsaison wird von solchen Stegen aus Kaffee und Kuchen serviert“, erzählt er begeistert. Sein Enthusiasmus ist verständlich, denn Essen spielt in Polen eine wichtige Rolle. Auch in Masuren wird es ausgiebig zelebriert, mit Suppen und Pasteten, viel Fleisch und Fisch, hausgemachten Piroggen und üppigen Desserts. Allein schon deshalb ist es eine gute Idee, Masuren vom Boot aus zu erkunden: Der Urlaub geht dann nicht so auf die Hüften.