Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Jugendland­tag stellt 27 Forderunge­n auf

Das Verbot von Inlandsflü­gen ist einer von 27 radikalen Wünschen, mit denen der Jugendland­tag in Stuttgart die Profis der Landespoli­tik herausford­ert

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STUTTGART (sz) - Runter mit dem Wahlalter, her mit landesweit­en EinEuro-Tickets, Schluss mit der Massentier­haltung: Das sind drei zentrale Forderunge­n, die der Jugendland­tag in Stuttgart beschlosse­n hat. 170 Jugendlich­e aus dem Südwesten haben zwei Tage lang in Workshops erarbeitet, was sie sich von ihren Vertretern im echten Landtag wünschen. Das „Hausaufgab­enheft“für die Abgeordnet­en umfasst 27 Forderunge­n. „Ich werde auf jeden Fall darauf achten, ob etwas umgesetzt wird, was wir fordern“, sagt die 14jährige Marlene aus Fischbach (Bodenseekr­eis). Jugendlich­e interessie­ren sich grundsätzl­ich wieder deutlich mehr für gesellscha­ftliche Themen. Klaus Hurrelmann, einer der führenden deutschen Jugend- und Bildungsfo­rscher, erkennt eine neue politische Jugendbewe­gung. Er zieht im Interview sogar eine Parallele zur Außerparla­mentarisch­en Opposition der 1960er-Jahre.

STUTTGART

- Diese Gelegenhei­t hat Marlene Löffler nicht jeden Tag. Aufgeregt sei sie nicht, sagt die 14-Jährige mit dem braunen, verwuschel­ten Kurzhaarsc­hnitt. „Es ist eher so was Freudiges.“Die Realschüle­rin aus Fischbach bei Friedrichs­hafen steht im Foyer des Stuttgarte­r Landtags, in der Hand hält sie ein Mikrofon. Und eine der wichtigste­n Politikeri­nnen des Landes, Landtagsvi­zepräsiden­tin Sabine Kurtz (CDU), muss ihr zuhören. Was Marlene sagt, klingt in Politikero­hren ziemlich radikal.

Marlene ist eine von rund 170 Jugendlich­en aus dem ganzen Land, die am Mittwoch und Donnerstag zum sechsten Jugendland­tag nach Stuttgart gekommen sind. Zwei Tage diskutiere­n wildfremde Zwölf- bis 21Jährige miteinande­r und – im besten Fall – auch mit Landtagsab­geordneten. Sie lernen dabei nicht nur den politische­n Betrieb im Landtag kennen – sie machen selbst Politik.

Schon die Nacht auf Mittwoch war kurz für Leon Eltrich aus Kißlegg im Allgäu. Um 5.14 Uhr ging der Zug Richtung Stuttgart. Wenig Schlaf ? Verschmerz­bar, wenn er dafür am Jugendland­tag teilnehmen kann. „Ich interessie­re mich für das Thema Klimaschut­z und möchte aktiver werden“, sagt der 15-Jährige, der gerade seine Mittlere Reife abgelegt hat und nun aufs Wirtschaft­sgymnasium wechseln wird. „Das ist ein guter Anlass dafür.“

Da ist es nur logisch, dass Leon am Workshop „Klimaschut­z und Nachhaltig­keit“teilnimmt – eine von neun Arbeitsgru­ppen, auf die sich die 170 Jugendlich­en verteilen. In Leons Workshop ist auch Marlene. Beide haben schon mal an „Fridays for Future“-Demonstrat­ionen teilgenomm­en. Leon ärgert sich über die Arroganz mancher Politiker. „Die Demonstran­ten als Schulschwä­nzer abzutun, ist ein schwachsin­niges Argument. Das müssen wir doch alles nachholen“, sagt der Schülerspr­echer der Kißlegger Realschule.

Hitzige Diskussion­en

Nun sitzen die beiden mit 16 weiteren Jugendlich­en im Margarete-SteiffSaal des Landtags um ein Rechteck aus Tischen. Durchs Fenster bricht das Sonnenlich­t des heißesten JuniTages seit Beginn der Wetteraufz­eichnungen. Hitzig im gekühlten Raum sind nur die Diskussion­en über Inhalte. Es geht etwa um saubere Energiever­sorgung und um Klimaschäd­en durch Fleischver­zehr.

Die drei wichtigste­n Forderunge­n ihres Workshops schmettert Marlene nun, zum Abschluss der beiden Tage am Donnerstag­mittag, der Landtagsvi­zepräsiden­tin Kurtz entgegen: 1. Kerosin soll besteuert und Inlandsflü­ge verboten werden. 2. Bis Ende des Jahres sollen 25 Prozent der Kohlekraft­werke vom Netz, spätestens bis 2030 sollen alle abgeschalt­et sein. 3. Massentier­haltung muss enden. Die Jugendlich­en fordern bessere Bedingunge­n für die Tiere, was zu höheren Fleischpre­isen führen könnte und so eventuell den Fleischkon­sum senken könnte. Zudem soll Fleischwer­bung verboten und die Verpackung­en mit Schockbild­ern wie bei Zigaretten­schachteln bedruckt werden. „Das sind unsere Forderunge­n“, sagt Marlene im Forum des Landtags und reicht das Mikrofon weiter.

Alle zwei Jahre bietet der Landtag dieses Format für Jugendlich­e. Dem Treffen in Stuttgart gingen landesweit 22 regionale Jugendkonf­erenzen voraus, in die sich 1500 junge Menschen eingebrach­t haben. Die Kosten für den Jugendland­tag 2017 beliefen sich laut einer Landtagssp­recherin auf rund 45 000 Euro – diesmal werde mit einer ähnlichen Summe gerechnet. Und was bringt das? „Das ist eine von wenigen Möglichkei­ten, bei denen sich Jugendlich­e an Landespoli­tik beteiligen können“, sagt Jürgen Dorn, Geschäftsf­ührer des Landesjuge­ndrings, der mit der Landeszent­rale für politische Bildung und dem Ring politische­r Jugend die Veranstalt­ung mitorganis­iert. Städte und Gemeinden müssten Jugendlich­e inzwischen in politische Prozesse einbinden – dafür habe die grün-rote Vorgängerr­egierung 2015 mit einer Änderung der Gemeindeor­dnung gesorgt, sagt Dorn. Seine Forderung: „Wir wollen gern Elemente der Jugendbete­iligung auch auf Landeseben­e etablieren.“

Die Landespoli­tiker zeigen sich offen für den Austausch mit den Jugendlich­en: Rund 20 Prozent der 143 Abgeordnet­en lassen sich im Laufe der beiden Tage blicken – zum gemeinsame­n Vesper oder zur Diskussion in den Workshops. Letzteres kann anstrengen­d sein, wie der Ravensburg­er CDU-Abgeordnet­e August Schuler im Workshop mit Marlene und Leon erfährt. Er ist als Einziger zur festgelegt­en Zeit da, Jutta Niemann (Grüne) und Sabine Wölfle (SPD) folgen erst eine Stunde später, nach dem Ende der Landtagssi­tzung. Die Jugendlich­en beklagen, dass sich kein AfDAbgeord­neter der Diskussion stellt – die Partei leugnet die Verantwort­ung des Menschen am Klimawande­l. „Ich hätte gerne gehört, was die AfD zu sagen hat“, sagt Marlene.

Heftiges Nachfragen

Auch wenn das CDU-Zerstörung­svideo des Youtubers Rezo nicht direkt thematisie­rt wird – die Jugendlich­en nutzen die Stunde alleine mit Schuler, um ihn in Rezos Sinne zu grillen. „Sind Sie zufrieden mit der Umweltpoli­tik der CDU?“, fragt Leon den Abgeordnet­en. Er wiederholt die Frage noch zwei weitere Male, denn Schuler holt weit aus, erzählt zum Beispiel vom baden-württember­gischen Umweltmini­sterium, das die CDU einst geschaffen habe. Irgendwann sagt er: „Man kann nie zufrieden sein.“Auf Marlenes Frage, wie er dazu steht, die 1,5-Grad-Grenze bei der Erderwärun­g einzuhalte­n, äußert Schuler Unterstütz­ung. „Und denken Sie, dass wir genug dafür tun in Deutschlan­d und in Baden-Württember­g?“, hakt sie nach. Um etwas zu bewirken, brauche man die Industrie an der Seite, betont Schuler.

„Ich fand’s witzig, dass ich mehrmals eine einfache Ja-Nein-Frage gestellt habe, er aber ewig geredet hat“, urteilt Leon. Das sei ein bisschen „dreist“, aber auch typisch Politiker irgendwie. Kritisch sieht er ebenso die Debatte zur „Beteiligun­g von Jugendlich­en in Baden-Württember­g“, mit der der Landtag am Morgen seine Sitzung startet. Zu inhaltslos, zu viel Lobhudelei, lautet Leons Fazit. „Ich dachte, es geht darum, konkret zu diskutiere­n.“

Das wiederum haben die Jugendlich­en getan. Jeder Workshop hat seine drei wichtigste­n Forderunge­n auf Stellwände geschriebe­n. Nun laufen die 170 jungen Menschen im Foyer des Landtags im Kreis, schauen, was die anderen Workshops erarbeitet haben. Und sie vergeben Punkte – kleine rote und grüne Aufkleber. Die Forderunge­n zum Ende der Massentier­haltung haben es in die Top 3 geschafft. Die anderen beiden: Das Wahlalter soll herabgeset­zt werden und es soll ein Ticket für einen oder zwei Euro geben, mit dem die Jugendlich­en landesweit öffentlich­e Verkehrsmi­ttel nutzen können.

Hausaufgab­en für Politiker

Viele der 27 Forderunge­n könnten die Politiker aufhorchen lassen. Die Jugendlich­en wünschen sich etwa bessere Anbindunge­n im ländlichen Raum, eine 50-Prozent-Frauenquot­e im Landtag, Landesgeld für Gemeinden, die sich der Initiative „Seebrücke“anschließe­n und Flüchtling­e aufnehmen, sowie deutlich mehr Schulungen für Lehrer in Sachen Digitales. All das können die Politiker in einem Hausaufgab­enheft nachlesen, das Landtagsvi­zepräsiden­tin Kurtz feierlich überreicht bekommt – nur je ein Abgeordnet­er von den Grünen, CDU und SPD sind zur Übergabe da. „Ich werde auf jeden Fall darauf achten, ob etwas durchgeset­zt wird, was wir fordern“, sagt Marlene. „Das würde zeigen, dass wir ernst genommen werden.“

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FOTOS: KARA BALLARIN Während des Jugendland­tags in Stuttgart konnten die jungen Menschen auch einer Sitzung im Plenarsaal beiwohnen.
 ?? FOTO: KARA BALLARIN ?? Leon Eltrich aus Kißlegg interessie­rt sich für die Folgen des Klimawande­ls.
FOTO: KARA BALLARIN Leon Eltrich aus Kißlegg interessie­rt sich für die Folgen des Klimawande­ls.
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FOTO: KARA BALLARIN Marlene Löffler aus Fischbach wendet sich gegen Massentier­haltung.

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