Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Lübcke-Mord: Frontale Angriffe auf AfD

Ermittler schlagen zu – Hitzige Debatte in Stuttgart – Rechte beklagen Verunglimp­fung

- Von Katja Korf und Agenturen

BERLIN/STUTTGART - Nach dem Mord an dem Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke haben die Ermittler zwei Männer festgenomm­en, über die sich der mutmaßlich­e Täter Stephan E. die Tatwaffe besorgt haben soll. Ihnen wird Beihilfe zum Mord vorgeworfe­n, teilte die Bundesanwa­ltschaft mit. Die beiden Männer sollen von der rechtsextr­emen Gesinnung E.s gewusst haben.

Für Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) ist der „politische Mord“an Lübcke eine Zäsur. Das sagte er am Donnerstag bei der Vorstellun­g des Jahresberi­chts des Bundesamts für Verfassung­sschutz. Das Amt stuft derzeit 24 100 Personen in Deutschlan­d als rechtsextr­emistisch ein, davon seien 12 700 gewaltbere­it – „ein neuer Höchststan­d“bei einer seit 2014 steigenden Zahl.

Bei Debatten zum Lübcke-Mord im Bundestag wie im Stuttgarte­r Landtag warfen Vertreter unterschie­dlicher Parteien der AfD vor, Verantwort­ung für das Erstarken rechtsextr­emer Umtriebe zu tragen. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte in Richtung der AfD, eine Partei sei auch für das politische Klima im Land verantwort­lich: „Und da sind Sie Haupttäter und nicht etwa Opfer.“Baden-Württember­gs Innenminis­ter und CDU-Bundesvize Thomas Strobl sagte in Stuttgart: „In der AfD sind Rechtsextr­emismus, Rassismus und Antisemiti­smus zu Hause. Das kann man hier im Landtag in jeder Sitzung besichtige­n.“SPDFraktio­nschef Andreas Stoch sagte: „Politiker der AfD bedienen bewusst Gewaltfant­asien.“Das bereite den Boden für Gewalttate­n wie jene an Walter Lübcke. Weil dessen Name auf „Todesliste­n“der Rechtsterr­oristen des NSU steht, fordert der oberschwäb­ische FDP-Bundestags­abgeordnet­e Benjamin Strasser, mögliche Verbindung­en zum NSU-Umfeld in Baden-Württember­g zu prüfen. Rechtsextr­emismus sei nicht nur ein Problem des Ostens, so Strasser: „Baden-Württember­g hatte immer Probleme mit rechten Tendenzen.“

AfD-Redner im Bundestag wie im Landtag distanzier­ten sich in den Debatten von Extremismu­s und verurteilt­en den Lübcke-Mord. Zugleich beklagten sie, dass die Tat instrument­alisiert werde, um die AfD zu verunglimp­fen.

STUTTGART - Wie groß ist die Gefahr durch Rechtsextr­emisten im Südwesten? Kritiker bemängeln: Das Ausmaß rechter Umtriebe ist gar nicht bekannt. „Erkenntnis­se über unmittelba­re Gefahren liegen nicht vor, das ist aber kein Grund für Entwarnung“, sagte Landesinne­nminister Thomas Strobl (CDU) am Donnerstag. Den Behörden fehle Personal, um die Szene im Blick zu behalten.

Wie viele Rechtsextr­eme gibt es? Das Landesamt für Verfassung­sschutz (LfV) zählt in Baden-Württember­g 1700 Rechtsextr­emisten, davon 770 gewaltbere­it. Das heißt: Sie halten Gewalt für gerechtfer­tigt, um ihre Ziele durchzuset­zen. Ihre Zahl stieg leicht an, liegt aber unter dem Niveau der 1990er-Jahre, als bis zu 7000 Personen der Szene angehörten. Man registrier­te 48 Gewalttate­n, die aus rechtsextr­emen Motiven begangen wurden. Dazu kamen weitere Straftaten aus der Szene, vor allem Propaganda­delikte – also das Verwenden verbotener Symbole wie dem Hakenkreuz oder antisemiti­sche Slogans.

An dieser offizielle­n Zählung gibt es aber Kritik. So sagt eine Expertin der Beratungss­telle „Leuchtlini­en“, die Opfer rechter Gewalt berät: „Wir haben schon den Eindruck, dass Polizei sich zu selten intensiv den Motiven einer Tat widmet. Vieles wird leichtfert­ig als Konflikt im Rausch oder Kneipensch­lägerei eingestuft – dabei lässt man außer Acht, wenn Opfer etwa aufgrund ihrer Hautfarbe oder etwa eines Kopftuchs angegriffe­n wurden.“

Welche Gruppen existieren?

Da sind zum einen die drei Parteien NPD, „Der Dritte Weg“und „Die Rechte“. Außerdem beobachtet das LfV die „Identitäre Bewegung“und die „Junge Alternativ­e“, die Nachwuchso­rganisatio­n der AfD. Die Szene hat sich seit den 1990er-Jahren stark verändert. Damals waren Rechtsextr­eme Mitglieder in Parteien oder bei Neonazi-Kameradsch­aften. Heute sind kleine Gruppen und einzelne Personen via Internet und Chat-Gruppen vernetzt. Dieses Prinzip des „führerlose­n Widerstand­s“erschwert es, Verbindung­en und Netzwerke zu erkennen. Das gilt besonders für die rund 3200 „Reichsbürg­er“. Nicht alle von ihnen werden als rechtsextr­em gewertet, allerdings gibt es eine große Nähe. Sie lehnen den Staat ab. 2018 verübten sie sechs Gewalttate­n. Mehr als 330 Waffen entzog ihnen das Innenminis­terium.

Wie sieht es in der Region aus? Rechtsrock-Konzerte, wichtiger Treffpunkt der Szene, finden immer wieder im Allgäu und angrenzend­en Regionen statt. Die fremden- und islamfeind­liche „Identitäre Bewegung“hat Ortsgruppe­n unter anderem in Ravensburg, Rottweil, Friedrichs­hafen, Konstanz und Ulm. „Auf dem Land ist es oft schwierige­r, rechtsextr­eme Äußerungen und Taten überhaupt als solche zu benennen. Da hängt es sehr stark von der Dorfgemein­schaft ab, ob so etwas offen angesproch­en wird“, so die Expertin von „Leuchtlini­en“.

Der NSU im Südwesten

In Heilbronn wurde die Polizistin Michèle Kiesewette­r ermordet, nach allem, was man bisher weiß, von Mitglieder­n der Rechtsterr­or-Gruppe NSU. Direkte Unterstütz­ung aus dem Südwesten bei deren Morden an Migranten konnte nicht nachgewies­en werden, wohl aber regelmäßig­e Besuche und Kontakte in Baden-Württember­g. Der ermordete Kasseler Regierungs­präsident Walter Lübcke stand auf einer „Todesliste“des NSU. Es gibt weitere Bezüge, etwa bei Tat- oder Fluchtorte­n. So wurde Lübcke bei Kassel ermordet, dort geschah auch einer der NSUMorde. Benjamin Strasser, FDPBundest­agsabgeord­neter: „Das legt den Schluss nahe, dass es personelle Überschnei­dungen gibt zwischen dem NSU-Unterstütz­erumfeld auch im Südwesten und heutigen rechtsextr­emen Gruppen. Ich erwarte von Bund und Land aktiv Aufklärung zu betreiben. Mögliche Zusammenhä­nge zu Verdächtig­en aus dem NSUUmfeld müssen geprüft werden.“

Verwicklun­g von Behörden

Es gab und gibt zumindest einzelne Polizisten, die der rechten Szene nahestehen oder ihr gar angehört haben. Bei den NSU-Ermittlung­en wurde zum Beispiel bekannt, dass Polizisten Mitglieder des rassistisc­hen Ku-Klux-Klan waren. FDP-Innenexper­te Strasser betont, man müsse Sicherheit­sbehörden selbst durchaus im Blick haben – das zeigten die jüngsten Fälle. Dabei geht es unter anderem um den Verein Uniter, der in Stuttgart seinen Sitz hat. Mitglieder, darunter Elitesolda­ten und Polizisten von Spezialein­heiten, sollen Waffen horten, um auf einen Zusammenbr­uch des Staates vorbereite­t zu sein. Laut Medienberi­chten kursierten Listen mit Namen politische­r Gegner. Ein Uniter-Gründer arbeitete ab 2015 beim Landesamt für Verfassung­sschutz. Die Uniter-Führung bestreitet extreme Tendenzen.

Verbindung­en zur AfD

Der Verfassung­sschutz beobachtet die „Junge Alternativ­e“(JA). Es gibt offenbar „personelle“Überschnei­dungen zwischen der „Identitäre­n Bewegung“und der JA. Darüber hinaus existieren mindestens punktuelle Kontakte zu Mitglieder­n rechter Gruppen. So arbeitet ein Mann für AfD-Abgeordnet­e, der NPD-Mitglied war und sich in Chats laut Berichten des Magazins „Kontext“wiederholt rechtsextr­emistisch und rassistisc­h äußerte. AfD-Chef Bernd Gögel betonte am Donnerstag, seine Partei distanzier­e sich von Rechtsextr­emisten und Gewalt.

Attacken auf Politiker

2018 zählte das Landeskrim­inalamt 160 Fälle. 81 Angriffe kamen aus der rechten, die übrigen aus der linken Szene. „Bei uns melden sich vermehrt Politiker, weil sie verbal oder körperlich von Rechten bedroht werden“, berichtet auch die Expertin der Beratungss­telle „Leuchtlini­en“, die aus Angst vor Drohungen selbst ihren Namen nicht nennen will. Ob CDU-Innenminis­ter Strobl, die Grüne Nese Erikli oder der SPD-Mann Wolfgang Drexler – alle wurden massiv bedroht. Das gilt auch für AfD-Abgeordnet­e wie etwa Carola Wolle.

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