Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein Frieden, den keiner wollte

Vor 100 Jahren wurde der Versailler Vertrag unterzeich­net – ein Dokument mit weltweiten Auswirkung­en

- Von Christoph Arens und Dirk Baas

BERLIN (KNA/epd) - Papst Benedikt XV. sprach von einem „rachsüchti­gen Diktat“und forderte Gerechtigk­eit auch für die Kriegsverl­ierer. „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?“, klagte der Ministerpr­äsident des Deutschen Reiches, Philipp Scheideman­n, und begründete damit im Mai 1919 seinen Rücktritt. Und der Soziologe Max Weber kommentier­te: „Nun wird […] der Friede diskrediti­ert sein, nicht der Krieg.“

Die Rede war vom Versailler Vertrag. Als die deutschen Minister Hermann Müller (SPD) und Johannes Bell (Zentrum) vor 100 Jahren, am 28. Juni 1919, ihre Unterschri­ften unter den Vertrag setzten, mussten sie eine Gruppe verstümmel­ter französisc­her Soldaten passieren – Gesichtsve­rletzte mit Schädelbin­den, fehlenden Nasen und zerschosse­nen Kiefern, „Gueules Cassées“(gebrochene Gesichter). Eine Demütigung sonderglei­chen, auch weil die Unterzeich­nung im Schloss von Versailles stattfand, wo 1871 das Deutsche Reich gegründet worden war.

„Kein Zweifel: Von den verstümmel­ten Soldaten sollte keine Botschaft des Friedens ausgehen“, schreibt der Marburger Historiker Eckart Conze in seinem Buch „Die Große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“. Sie sollten den deutschen Kriegsverl­ierern vor den Augen der Welt die alleinige moralische Schuld zuweisen.

Die Versehrten wirkten wie lebende Kriegsdenk­mäler, die die Deutschen schocken sollten. „Aufrechte Zeugen des Krieges, Kläger und Richter“, schrieb die Pariser Zeitung „Le Petit Journal“. Für die Historiker­in Verena Steller war es der Versuch, den Abgesandte­n das „nie gesehene Ausmaß an Zerstörung, das den Gueules Cassées buchstäbli­ch ins Gesicht geschriebe­n stand, vor Augen zu führen“. Ihre Anwesenhei­t verdeutlic­hte auch: Ein Frieden des Vergebens, Vergessens und der Versöhnung sollte im Versailler Schloss nicht geschlosse­n werden.

Keine deutsche Beteiligun­g Deutschlan­d war an den Verhandlun­gen nicht beteiligt. Seine Abgesandte­n können den Vertragste­xt nur entgegenne­hmen. Alles in allem verlor das Reich etwa ein Siebtel seines Gebiets, ein Zehntel seiner Bevölkerun­g und musste auf seine Kolonien verzichten. Die in Artikel 231 festgeschr­iebene Alleinschu­ld am Weltkrieg führte zu enormen Reparation­sforderung­en. Schnell galt der Vertrag bei einem beträchtli­chen Teil der Deutschen als „Diktat“und „Schandfrie­den“.

Westfälisc­her Friede von 1648 und Wiener Kongress 1815: Beide europäisch­en Friedenssc­hlüsse schufen eine lang währende stabile Ordnung. Der Versailler Vertrag aber war schon 20 Jahre später Makulatur. Es war ein von allen Seiten ungeliebte­r Friedenssc­hluss, der später auch für den Aufstieg Hitlers und den Zweiten Weltkrieg verantwort­lich gemacht wurde. „Auf allen Seiten ging auch nach dem Waffenstil­lstand der Krieg in den Köpfen weiter“, heißt es bei Conze. „Versailles – das war der Frieden, den keiner wollte.“

Dabei war der Weg zu Hitler keineswegs zwangsläuf­ig: Die Weimarer Republik habe durchaus eine Erfolgscha­nce gehabt, so der Historiker. Er warnt zugleich vor einer auf Westeuropa fixierten Sichtweise. Denn die Pariser Vorortvert­räge – darunter der Vertrag von Saint Germain mit Österreich 1919, der Vertrag von Trianon mit Ungarn 1920 und der Vertrag von Sèvres mit dem Osmanische­n Reich 1920 – hatten weltweite Auswirkung­en.

„Vielleicht unternahm die Pariser Friedensko­nferenz von vornherein etwas Unmögliche­s“, zitiert der Marburger Historiker den Schriftste­ller Sebastian Haffner. Da gab es einerseits die große Friedensse­hnsucht und die illusionär­en Hoffnungen, dass nach dem mörderisch­sten Krieg der Geschichte endlich eine stabile Ordnung geschaffen würde. Doch da war anderersei­ts der immense Hass. Die Versailler Friedensve­rhandlunge­n standen unter dem permanente­n Druck der Weltöffent­lichkeit. „Frieden schließen nach totalem Krieg, dafür gab es keine Vorbilder“, so der Autor.

Zugleich gab es ein großes Bündel von Problemen zu lösen: Der Zerfall des Osmanische­n Reichs, der Habsburger Monarchie und Russlands löste eine Welle von Nationalis­mus, ethnischen Auseinande­rsetzungen und die Gründung neuer Nationalst­aaten aus. Bis heute zeigen sich die Folgen etwa auf dem Balkan, in Palästina, dem Irak oder zwischen der Türkei und Griechenla­nd.

Dramatisch­e Auswirkung­en hatte Versailles auch auf die koloniale Welt. Die Auflösung des deutschen Kolonialre­ichs und das Ende der osmanische­n Herrschaft über weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens weckten Hoffnungen auf Selbstbest­immung. Sie wurden enttäuscht, weil Frankreich und England diese Gebiete in ihr eigenes Kolonialre­ich einglieder­ten.

Zur Instabilit­ät der Versailler Friedensor­dnung trug auch bei, dass die USA nicht bereit waren, die von ihr wesentlich mit geschaffen­e Ordnung zu stabilisie­ren, etwa im Völkerbund. Das sollte sich erst nach 1945 ändern.

 ?? ARCHIVFOTO: DPA ?? Im Schloss von Versailles wurde am 28. Juni 1919 der Versailler Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und 27 alliierten und assoziiert­en Mächten unterzeich­net.
ARCHIVFOTO: DPA Im Schloss von Versailles wurde am 28. Juni 1919 der Versailler Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und 27 alliierten und assoziiert­en Mächten unterzeich­net.

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