Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein Brite warnte vor der Überforder­ung Deutschlan­ds

Der bedeutende Ökonom John Maynard Keynes erkannte als einer der wenigen die Mängel des Vertragwer­kes

- Von Georg Bitter

RAVENSBURG - Der Versailler Vertrag wurde nicht nur in Deutschlan­d mit Entsetzen aufgenomme­n. Zu jenen, die schon früh vor den Folgen des Abkommens warnten, gehörte John Maynard Keynes.

Der britische Wirtschaft­sprofessor, der als einer der bedeutends­ten Ökonomen des 20. Jahrhunder­ts gilt, war als Berater der britischen Delegation an den Verhandlun­gen beteiligt. Er war einer der ersten und zugleich wenigen Berater der britischen Delegation, der die Schwächen des Vertragswe­rkes schnell erkannte. Seine im Dezember 1919 veröffentl­ichte Schrift „Economic Consequenc­es of the Peace“ist eine schonungsl­ose Abrechnung mit den Ergebnisse­n der Konferenz. Keynes bemängelte, der Vertrag fördere in „keiner Weise die wirtschaft­liche Interessen­gemeinscha­ft unter den Verbündete­n“. Hauptinter­esse der Siegermäch­te sei wohl lediglich Wiedergutm­achung. Dabei würden sie die wirtschaft­liche Leistungsf­ähigkeit Deutschlan­ds gewaltig überschätz­en.

In dieser Überschätz­ung der wirtschaft­lichen Leistungsf­ähigkeit Deutschlan­ds sieht Keynes das eigentlich­e Übel des Vertragswe­rks. Deutschlan­d müsse wieder leistungsf­ähig gemacht werden, das war nach Keynes die Grundvorau­ssetzung zum wirtschaft­lichen Wiederaufs­tieg Europas.

Der Friedensve­rtrag aber schneide Deutschlan­d vom internatio­nalen Markt ab, so Keynes weiter. Deswegen – und auch wegen seiner nach der Niederlage stark eingeschrä­nkten technische­n Fähigkeite­n – könne Deutschlan­d nicht mehr genug Lebensmitt­el zur Versorgung der Bevölkerun­g einführen. „Wer diesen Friedensve­rtrag unterzeich­net“, resümiert Keynes, „spricht damit das Todesurtei­l über viele Millionen deutscher Männer, Frauen und Kinder aus.“In einer Zeit, in der Großbritan­nien gerade noch Kriegsgegn­er des Deutschen Reiches war, waren dies ungewöhnli­che Worte.

Dass die damaligen Sieger Deutschlan­ds Leistungsf­ähigkeit gewaltig überschätz­t hatten, steht aus heutiger Sicht außer Frage. Ursache für die hohen Forderunge­n an Deutschlan­d war die damalige internatio­nale Verschuldu­ngskrise: Frankreich war hoch in England verschulde­t, England in den USA, Italien auch in den USA. In den Reparation­szahlungen sahen England und Frankreich die Möglichkei­t, sich dieser Schulden zu entledigen und den Kriegsverl­ierer zahlen zu lassen.

Die Zins- und Tilgungsle­istungen des Deutschen Reiches in den 1920er-Jahren nach Unterzeich­nung des Vertrages lähmten die wirtschaft­liche Entwicklun­g in Deutschlan­d und trugen wesentlich zum Aufstieg der Extremiste­n von links und rechts bei.

Keynes trat noch vor dem Ende der Konferenz von seiner Funktion als Berater der britischen Regierung zurück, aus Protest gegen die harten Friedensbe­dingungen für Deutschlan­d. Mit seinen Mahnungen sollte er recht behalten.

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FOTO: OH John Maynard Keynes

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