Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Ein Brite warnte vor der Überforderung Deutschlands
Der bedeutende Ökonom John Maynard Keynes erkannte als einer der wenigen die Mängel des Vertragwerkes
RAVENSBURG - Der Versailler Vertrag wurde nicht nur in Deutschland mit Entsetzen aufgenommen. Zu jenen, die schon früh vor den Folgen des Abkommens warnten, gehörte John Maynard Keynes.
Der britische Wirtschaftsprofessor, der als einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts gilt, war als Berater der britischen Delegation an den Verhandlungen beteiligt. Er war einer der ersten und zugleich wenigen Berater der britischen Delegation, der die Schwächen des Vertragswerkes schnell erkannte. Seine im Dezember 1919 veröffentlichte Schrift „Economic Consequences of the Peace“ist eine schonungslose Abrechnung mit den Ergebnissen der Konferenz. Keynes bemängelte, der Vertrag fördere in „keiner Weise die wirtschaftliche Interessengemeinschaft unter den Verbündeten“. Hauptinteresse der Siegermächte sei wohl lediglich Wiedergutmachung. Dabei würden sie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands gewaltig überschätzen.
In dieser Überschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands sieht Keynes das eigentliche Übel des Vertragswerks. Deutschland müsse wieder leistungsfähig gemacht werden, das war nach Keynes die Grundvoraussetzung zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg Europas.
Der Friedensvertrag aber schneide Deutschland vom internationalen Markt ab, so Keynes weiter. Deswegen – und auch wegen seiner nach der Niederlage stark eingeschränkten technischen Fähigkeiten – könne Deutschland nicht mehr genug Lebensmittel zur Versorgung der Bevölkerung einführen. „Wer diesen Friedensvertrag unterzeichnet“, resümiert Keynes, „spricht damit das Todesurteil über viele Millionen deutscher Männer, Frauen und Kinder aus.“In einer Zeit, in der Großbritannien gerade noch Kriegsgegner des Deutschen Reiches war, waren dies ungewöhnliche Worte.
Dass die damaligen Sieger Deutschlands Leistungsfähigkeit gewaltig überschätzt hatten, steht aus heutiger Sicht außer Frage. Ursache für die hohen Forderungen an Deutschland war die damalige internationale Verschuldungskrise: Frankreich war hoch in England verschuldet, England in den USA, Italien auch in den USA. In den Reparationszahlungen sahen England und Frankreich die Möglichkeit, sich dieser Schulden zu entledigen und den Kriegsverlierer zahlen zu lassen.
Die Zins- und Tilgungsleistungen des Deutschen Reiches in den 1920er-Jahren nach Unterzeichnung des Vertrages lähmten die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und trugen wesentlich zum Aufstieg der Extremisten von links und rechts bei.
Keynes trat noch vor dem Ende der Konferenz von seiner Funktion als Berater der britischen Regierung zurück, aus Protest gegen die harten Friedensbedingungen für Deutschland. Mit seinen Mahnungen sollte er recht behalten.