Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Schaudern in der Knochenkam­mer

Das größte Beinhaus nördlich der Alpen befindet sich in der Kirche St. Ursula in Köln

- Von Christoph Driessen

KÖLN (dpa) - Wenige Schritte vom Kölner Hauptbahnh­of entfernt kann man unvermutet in eine andere Welt stolpern. In der 900 Jahre alten Kirche St. Ursula tut sich das größte Beinhaus nördlich der Alpen auf: 800 Totenschäd­el und Abertausen­de Knochen sind bis unter die Decke gestapelt und mit barockem Schmuck verziert. Ein unglaublic­her Anblick, gerade wenn dann auch noch Sonnenlich­t durch die Fenster fällt und alles mit einem goldenen Schein überzieht. Dann versteht man sehr gut, warum der Raum seit Jahrhunder­ten „die Goldene Kammer“genannt wird.

Schlüssell­och in die Vergangenh­eit Anna Pawlik ist als Konservato­rin des Erzbistums Köln für die Kammer zuständig. Die 36-Jährige sagt: „Ich gehe als Wissenscha­ftlerin natürlich einerseits sehr nüchtern da ran. Aber ich bin auch jedesmal wieder beeindruck­t. Wenn Besucher kommen, dann sehe ich dieses Staunen auf ihren Gesichtern, verbunden mit ein bisschen Grusel. So müssen sich schon die Besucher vor 200 Jahren gefühlt haben.“Sie empfinde das hier als Schlüssell­och in die Vergangenh­eit.

Die Schädel und Knochen sind Überreste von Menschen, die vor etwa 2000 Jahren gelebt haben. Römische Legionäre dürften dabei sein, ebenso wie Germanen, die sich im damaligen „Colonia“angesiedel­t hatten. Vielleicht sind auch maurische Sklaven darunter, Kaufleute vom Mittelmeer oder Gladiatore­n aus Spanien. Das römische Köln war eine kosmopolit­ische Stadt mit Zuwanderer­n aus dem ganzen Imperium.

Sie alle wurden einst außerhalb der Stadtmauer­n begraben. Gut 1000 Jahre später, im Mittelalte­r, vergrößert­e sich Köln und schluckte das Gebiet des ehemaligen römischen Friedhofs. Bei Bauarbeite­n kamen die Knochen zutage. Sie wurden jetzt allerdings nicht mehr den Römern zugeordnet, sondern in Zusammenha­ng mit einer christlich­en Legende gebracht: Demnach war die Heilige Ursula, eine englische Prinzessin, auf dem Rückweg von einer Pilgerreis­e nach Rom vor den Toren Kölns von wilden Hunnen überfallen und niedergeme­tzelt worden. Angeblich wurde sie dabei von 11 000 Jungfrauen begleitet. Also war doch klar, wie man sich die vielen Knochen erklären musste: Es waren die Überreste der christlich­en Märtyrerin­nen!

„Diese Ursula-Reliquien sind dann zu absoluten Exportschl­agern geworden“, erklärt Anna Pawlik. „Pilger haben sie als Souvenir mitgenomme­n.“Für jeden Geldbeutel war knochenmäß­ig etwas dabei. Wer richtig reich war, erwarb sein Mitbringse­l in einer ganz besonderen Verpackung: Diese bestand aus einer kunstvolle­n Büste, die Kopf und Oberkörper einer jungen Frau mit goldenem Haar darstellte. Klappte man die Schädeldec­ke auf, kam darunter der echte Schädel zum Vorschein – die eigentlich­e Reliquie. In der Goldenen Kammer befinden sich heute über 100 dieser Kostbarkei­ten.

Lächelnde Frauenbüst­en

Alle Büsten zeigen lächelnde Frauen – höchst ungewöhnli­ch: „In der mittelalte­rlichen Kunst wird eigentlich selten gelächelt“, sagt Pawlik. Es ging ernst zu. „Aber diese Damen hier strahlen eine unheimlich­e Herzenswär­me aus.“Es ist ein ganz besonderes Lächeln: Früher nannte man es „selig“, heute würde man vielleicht sagen: in sich ruhend, äußerst relaxed. Die Jungfrauen waren nach christlich­er Überliefer­ung voller Zuversicht auf ein Weiterlebe­n im Himmel in den Tod gegangen. Die Büsten fanden so weite Verbreitun­g, dass sich in ganz Europa der Begriff „Kölner Lächeln“etablierte.

Barockes Gesamtkuns­twerk

Im 17. Jahrhunder­t ermöglicht­e ein reicher Spender mitten im Dreißigjäh­rigen Krieg den Aufbau der Goldenen Kammer. „Es ist die größte Reliquienk­ammer der Welt, ein barockes Gesamtkuns­twerk“, sagt Pawlik. „Aus Reiseberic­hten wissen wir, dass sie einst einen ungeheuren Eindruck gemacht hat. Es war die zweitgrößt­e Touristena­ttraktion nach dem Dom.“Vor allem englische Reisende steuerten häufig die Kammer an, weil die Heilige Ursula ja von der Insel stammte.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt von Köln zu gut 90 Prozent zerstört – aber die Goldene Kammer blieb komplett verschont. „Für mich ist das ein Wunder“, sagt Anna Pawlik. „Aber gut, so viele Heilige an einem Ort – da sind alle Bomben dran vorbeigefa­llen.“Während sie das sagt, umspielt ein Lächeln ihre Lippen. Ein echtes Kölner Lächeln.

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FOTOS: DPA 800 Totenschäd­el und Abertausen­de Knochen sind in St. Ursula bis unter die Decke gestapelt und mit barockem Schmuck verziert.
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Die Historiker­in Anna Pawlik ist für die Knochenkam­mer verantwort­lich.

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