Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Lucha verteidigt Krankenhaus-Kurs
Gesundheitsversorgung der Bürger bleibe trotz Schließungen gesichert
STUTTGART - Zwei Krankenhäuser in Weingarten und Riedlingen schließen, der Standort Spaichingen verliert seine beiden größten Abteilungen: Die Kliniklandschaft in der Region verändert sich. Bürger fürchten um die medizinische Versorgung. Während Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) diese Sorgen versteht, aber nicht teilt, verlangen die Vertreter der Gemeinden und Landkreise mehr Aktivitäten von der grün-schwarzen Landesregierung.
In den vergangenen 20 Jahren haben Kommunen oder andere Träger rund 90 Krankenhäuser im Land geschlossen. Aktuell steht ein Drittel der Kliniken vor der Pleite. Das sind mehr als in jedem anderen Bundesland. Personalmangel, höhere Lohnkosten als anderswo, und sehr viele kleine Häuser im Südwesten sind einige der Gründe. Luchas Ministerium finanziert Bau und Sanierung. Mit Mitteln des Bundes fördert er gezielt Projekte, die den Strukturwandel vorantreiben – weg von vielen kleinen Krankenhäusern hin zu wenigen großen. Wo Häuser schließen, sollen andere Angebote zur Gesundheitsversorgung entstehen.
„Krankenhäuser, die nicht benötigt werden, schließen sich von selbst. Die werden nicht geschlossen. Es ist Aufgabe von verantwortlicher Politik, rechtzeitig die Weichen so zu stellen, dass eine möglichst optimale Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger auch für die Zukunft gesichert ist. Ich bin überzeugt: Das erreichen wir nicht mit möglichst vielen Krankenhäusern, sondern mit dem richtigen Krankenhaus am richtigen Ort und mit einer klugen sektorenübergreifenden Versorgungslandschaft.“
Städte und Landkreise halten das im Grundsatz für sinnvoll. Doch um ihren Bürgern eine gute medizinische Versorgung zu bieten, benötigten sie mehr Geld und Macht. Dafür müsse Lucha sorgen. „Die Politik des Sozialministeriums für die Krankenhäuser im ländlichen Raum ist ambivalent: Zwar betont man ständig, wie wichtig der Erhalt einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung ist, sobald man jedoch in diesem Bereich Engagement zeigen könnte, verblassen die Bekundungen“, so Tim Gerrhäuser vom Landkreistag. Sein Pendant Benjamin Lachat, Vertreter des Städtetags, moniert, es dauere zu lange, bis Gesundheitszentren entstünden: „Wenn Krankenhäuser schließen, muss schnell etwas Neues entstehen, es darf keine Versorgungslücke entstehen. Das passiert aber leider an einigen Orten im Land.“
Noch behindern Bürokratie und komplizierte Abrechnungsregeln, dass Versorgungszentren entstehen. Vielerorts fehlt das Geld. Die kassenärztliche Vereinigung (KV) warnt derweil, diese Finanzlücke durch internationale Investoren zu stopfen. „Wenn deren Einfluss zu groß wird, stehen wirtschaftliche statt medizinische Erfolge im Vordergrund“, sagte eine Sprecherin.
HOHENSTEIN - Dem Leuchtturm fehlt das Licht. Ausgerechnet über dem Schild „PORT Gesundheitszentrum“ragen noch Kabel aus der Wand, die Leuchten dazu fehlen. Erst seit wenigen Wochen hat das Zentrum in Hohenstein auf der Schwäbischen Alb (Landkreis Reutlingen) geöffnet. Es gilt als bundesweites Vorzeigeprojekt dafür, wie man Gesundheitsversorgung in Zeiten von Landärztemangel und Klinikschließungen organisieren kann. Ob Spaichingen, wo zwei große Abteilungen schließen, oder das endgültige Aus für Riedlingen oder Weingarten: Wo Kreise, Kommunen oder private Betreiber ihre kleinen Krankenhäuser schließen, werden solche oder ähnliche Modelle versprochen – nicht als Ersatz, aber doch als gute Alternative. Im Unterschied zu klassischen Gemeinschaftspraxen von Ärzten betreiben nicht Mediziner die Einrichtung, sondern Kommunen, Verbände oder andere.
Große Krankenhäuser mit vielen Patienten liefern im Schnitt bessere Qualität, weil sie mehr Erfahrung sammeln, sie sind effizienter, weil sie die teuren Geräte für mehr Menschen nutzen, sie haben es leichter, das rare Fachpersonal zu gewinnen und in familienfreundlichen Schichten zu organisieren. Kleine Häuser können allenfalls überleben, wenn sie sich stark spezialisieren. Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) ist überzeugt: „Mit der Bündelung der medizinischen Kompetenzen in den größeren Kliniken in Ravensburg, Biberach und Tuttlingen sowie durch die Schaffung neuer ambulanter medizinischer Strukturen an den Standorten Weingarte, Riedlingen und Spaichingen können die Patientinnen und Patienten vor Ort auch in Zukunft optimal versorgt werden.“Doch was genau können die gepriesenen Gesundheitszentren leisten und wo liegen Hürden?
Reutlingens Landrat Thomas Reumann zeigt eine Folie, auf der mehrere Leuchttürme in seinem Landkreis blinken. Sie stehen für das, was über die Alb verteilt entstehen soll: ein Netz aus kleinen Zentren, in denen jeweils verschiedene Gesundheitsangebote Platz haben. Hier ein paar Kurzzeitpflegeplätze, da Angebote für Kinder und Jugendliche, dort Fachärzte. Bislang ist einer der Leuchttürme in Betrieb, nämlich der in Hohenstein. Ein Kinderarzt hat dort seine Praxis und ein Physiotherapeut. Regelmäßig bieten Mediziner der Universitätsklinik Tübingen Sprechstunden an, in denen junge Ärzte vor Ort lernen. Zwei Hebammen sind hier erreichbar, es gibt Platz für Fachärzte der Kreiskliniken in Reutlingen, die hier demnächst ebenfalls Sprechstunden anbieten.
Klingt gut, aber nicht revolutionär. Es sagt viel über das deutsche Gesundheitssystem, dass etwas scheinbar so Einfaches wie ein solches Gesundheitszentrum vieler kleiner Revolutionen bedarf. Die Grenzen zwischen Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten sind strikt, ebenso zwischen Ärzten und anderen Gesundheitsberufen. Wer wann welche Patienten behandeln darf, wann eine Leistung von den Kassen erstattet wird, ist sehr genau und starr geregelt. Ein einfaches Beispiel: Auf den letzten Metern wäre das Projekt in Hohenstein fast gescheitert. Denn die Standesordnung von Ärzten verbietet eigentlich gemeinsame Wartezimmer etwa mit einem Physiotherapeuten.
Überall da, wo Krankenhaus, niedergelassene Ärzte und andere zusammenarbeiten sollen, stehen also Mauern. Sie einzureißen fordern derzeit so ziemlich alle Experten und Politiker. Ihr Zauberwort lautet „sektorenübergreifend“. Es gilt, die Grenzen zwischen den Angeboten durchlässiger zu machen. Das Land unterstützte solche Projekte in den vergangenen zwei Jahren mit rund 2,3 Millionen Euro. Allerdings ging es in vielen der geförderten Regionen, etwa in den Landkreisen Ravensburg und Biberach, zunächst darum, Zahlen zu erheben, Probleme zu analysieren und Konzepte für neue Versorgungseinrichtungen zu entwickeln. In Zukunft könnten solche Zentren aber einige Betten für Patienten bereithalten, die zum Beispiel nach ambulant durchgeführten Operationen noch überwacht werden müssen.
Doch bis ein Zentrum wirklich steht, sind viele Hindernisse zu überwinden. Von denen kann Reutlingens Landrat Reumann genauso viel erzählen wie von Leuchttürmen. Deshalb steht auf seiner Folie erst neben dem Zentrum in Hohenstein „eröffnet“, überall sonst „geplant“oder „angefragt“. „Sektorenübergreifende Versorgung wird in jeder politischen Rede thematisiert, aber in der Realität stoßen wir täglich auf neue Mauern, aus denen man einen Stein nach dem anderen herausbrechen muss“, sagt Reumann. Neun Jahre dauerte es von der ersten Idee bis zur Eröffnung. Eine sehr hohe Hürde konnten Reumann und Hohensteins Bürgermeister Jochen Zeller nur überspringen, weil ihnen zwei finanzkräftige Helfer zur Seite standen: die Robert-Bosch- und die Schwörer-Stiftung.
Wie viel Geld diese in den Bau und Betrieb stecken, sagt niemand. Es ist aber sehr viel mehr als die 35 000 Euro, die das Land dazu gibt. Denn eigentlich ist es ja nicht zuständig – ein Versorgungszentrum ist schließlich kein Krankenhaus. Schwörer baute das Gebäude und ist Hausherr. Ärzte, Therapeuten und andere Nutzer zahlen Miete, aber zu günstigen Konditionen. Irgendwann soll sich das Zentrum selbst tragen, dazu müssen aber weiter Mauern eingerissen werden. Derzeit treffen sich zum Beispiel Therapeuten und Ärzte zu gemeinsamen Fallkonferenzen, besprechen Diagnose und Behandlung einzelner Patienten. Schlägt die Physiotherapie an? Was weiß der Hausarzt über die familiären Belastungen? Was sagt der Facharzt zu den Symptomen? Die Besprechungen sollen die Behandlungen verbessern. Ein ähnlich intensiver Austausch zwischen den Professionen ist sonst nicht möglich. Sinnvoll zwar, aber die Arbeitszeit erstattet normalerweise niemand. In Hohenstein springen die Stiftungen ein, es laufen noch Verhandlungen mit den Krankenkassen.
Ähnliches gilt für die Lotsin im Leuchtturm. Elisabeth Reyhing empfängt Patienten an einer Theke im Eingang des Hohensteiner Zentrums. Die gelernte Krankenschwester
soll den Weg weisen zu geeigneten Ärzten, Pflegeangeboten oder Sozialdiensten in der Region. Manchmal brauche ein älterer Mensch vielleicht neben medizinischer Hilfe auch Ansprache und Kontakt. Die Lotsin soll Ansprechpartner etwa in Kirchengemeinden vermitteln, Hilfestellung geben zu komplizierten Bescheiden und Briefen. „Vor allem würde ich Menschen gerne helfen, sich zu wehren. Viele Anträge auf Gesundheitsleitungen werden ja erst einmal abgelehnt, viele wissen gar nicht, wie sie dagegen vorgehen können“, sagt Reyhing. Ihre Stelle ist zentral in dem Konzept. Denn auch die Menschen kennen oft nur die klassischen Anlaufstellen: Arzt, Krankenhaus, vielleicht noch Pflegedienst. Doch dort finden sie immer seltener Gesprächspartner, die Zeit abseits der eigentlichen Dienstleistung haben.
Belohnt werden jene, die schnell viele Menschen behandeln. „Wir sehen, dass die Interessen der Bevölkerung im bestehenden System nicht hinreichend berücksichtigt werden“, sagt Tim Gerhäusser vom Landkreistag. Arztpraxen würden aufgelöst, weil kein Nachfolger mehr gefunden wird. Krankenhausstandorte gerieten in die roten Zahlen, weil Krankenkassen zu wenig für Leistungen zahlen. „Die Politik des Sozialministeriums für die Krankenhäuser im ländlichen Raum ist ambivalent: Zwar betont man ständig, wie wichtig der Erhalt einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung ist, sobald man jedoch in diesem Bereich Engagement zeigen könnte, verblassen die Bekundungen.“
Wenn Ärzte und Krankenhäuser fehlen, landen die Menschen auf der Suche nach Hilfe oft im Rathaus. Geht es strikt nach den Gesetzen, sind die Städte und Gemeinden gar nicht zuständig. „Aber den Bürgern ist natürlich egal, wer zuständig ist. Sie wollen Hilfe bei Gesundheitsproblemen, für sich oder Angehörige“, sagt Benjamin Lachat, Dezernent beim Städtetag. Den Kommunen aber fehle Geld und Entscheidungsgewalt, um eigene Angebote zu etablieren. „Wir wollen und würden, wenn sich das ändert“. Kleine Häuser zu schließen, Spezialisten an großen Häusern zu konzentrieren, all das hält er für wichtig und lobt diesen Kurs von Minister Lucha. „Aber es muss schnell etwas Neues entstehen, es darf keine Versorgungslücke drohen oder entstehen. Und das passiert an einigen Orten“, sagt Lachat. Auch deshalb protestieren so viele Bürger überall dort, wo Häuser
schließen. Das Bekannte geht, das Neue bleibt vage.
Die bürokratischen Hürden, die Hakeleien zwischen den Professionen, zwischen Gemeinden, Land und Bund, sie bremsen. Abhilfe könnte aus Sicht des Städtetags und von Landrat Reumann vor allem eine andere Planung schaffen. Städten, Gemeinden und Kreisen fehlen Macht und Geld, um durchaus existierende Konzepte durchzusetzen. Noch entscheiden die Träger selbst, was sie tatsächlich anbieten. Reumanns Vision: Jede Kommune, jeder Kreis, jede Region plant mit den wichtigen Akteuren, was gebraucht wird. Auf Landesebene fließt all das zusammen – und von dort wird dann das Geld verteilt, an Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Pflegeheime. Ein solches Vorgehen gilt unter Experten als Mittel der Wahl, Sozialminister Lucha begrüßt sie. Doch wenn es ernst wird, muss Lucha auf den Bund verweisen. In dessen Verantwortung liegt es, die Finanzierung neu zu regeln. Die Aussichten sind angesichts starker Lobbyverbände, der komplexen Thematik und dem Zustand der Großen Koalition in Berlin eher düster. So heißt es in einer Broschüre des Sozialministeriums wenig hoffnungsvoll: „Eine Einflussnahme auf die auf Bundesebene vorzunehmenden Weichenstellungen ist nur in langfristigen und komplexen Prozessen möglich.“
Doch Geld verleiht die Macht, um die Anbieter im Gesundheitssystem zu steuern. Ohne Investoren, glaubt Landrat Reumann, könnten Kommunen die Zentren nicht errichten. An diesem Punkt erhebt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) mahnend die Stimme. Vermehrt investieren Fonds oder internationale Konzerne in medizinische Zentren. „Solche Zentren sind ohne Frage ein Modell der Zukunft. Junge Ärztinnen und Ärzte wollen gerade zu Beginn ihrer Karriere lieber im Team arbeiten und ohne die finanzielle Belastung einer eigenen Praxis“, so Swantje Middeldorf, Sprecherin der KV im Südwesten. „Das bieten viele große Gemeinschaftspraxen unter ärztlicher Führung bereits heute sehr gut.“Doch die Leitung müsse in ärztlicher Hand liegen. „Wenn Investoren das Heft in der Hand haben, überwiegen am Ende immer die wirtschaftlichen Interessen.“
Wie schwierig die Mission „Mehr Zusammenarbeit im Gesundheitswesen“ist, zeigt der Blick ins Nachbarland Österreich. Wie die Wochenzeitung „Die Zeit“berichtet, sollten dort seit 2013 rund 75 Versorgungszentren entstehen, unter anderem in Vorarlberg ein Spital überflüssig machen. Vorbild: ein Leuchtturm in Wien. Stand heute arbeiten dort zehn Praxen. „Seit Jahren herrscht ein Hickhack zwischen Ärztekammer, Krankenkassen und Sozialversicherungsträgern über Details“, bilanziert die „Zeit“.
Reumanns Leuchttürme befrieden ebenfalls nicht alle Debatten im Landkreis. Dort musste in der Klinik Münsingen die Geburtshilfe schließen, in Bad Urach die Unfallchirurgie. Bürgerinitiativen protestieren, aus der niedergelassenen Ärzteschaft heißt es, Reumann habe „seinen“Leuchtturm gegen jeden Widerstand durchgedrückt, in Hohenstein meint eine Bürgerin, das Ganze sei „schon o.k., aber Kinderärzte gab es hier auch vorher“. Reumann sagt dazu: „Natürlich ersetzen die Zentren keine Krankenhäuser. Sie sind nicht die Lösung, aber ein Baustein der Lösung.“