Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Geträumt vom Leben
Ein bewegender Gedenkabend erinnert an den Dichter und Schriftsteller Siegried Einstein
„Noch einmal möchte ich an Menschen glauben wie damals, als ich noch ein Knabe war. – Ach, jener Glaube war so wunderbar.“
Verse
des vor 100 Jahren in Laupheim geborenen jüdischen Dichters und Schriftstellers Siegfried Einstein, veröffentlicht 1948 in dem Gedichtband „Melodien in Dur und Moll“. Zeilen der Sehnsucht nach einer besseren Zeit, geschrieben von einem, den Unmenschen demütigten, ins Exil trieben und heimatlos machten. Lebenslang hat er darunter gelitten.
An sein Schicksal und sein Werk erinnerte die Stadt am Donnerstag mit einem empfindsamen, bewegenden Gedenkabend im Kulturhaus. Rudolf Guckelsberger las aus Texten des Autors. In dem Romanfragment „Jom Kippur“entfaltet Einstein jüdisches Leben am Beispiel des Knaben Lothar Goldstein (der er selbst gewesen sein mag). „Was ist das für ein Horn?“, fragt der Bub den alten Samuel Schiller. Ein Schofar, entgegnet der, „ein Widderhorn, mein Sohn. Durch das Blasen des Schofars fielen die Mauern vor Jericho. Das war ein großer Tag, mein Junge, ein großer Tag.“
Als Einziger der emigrierten Laupheimer Juden kehrte Einstein dauerhaft nach Deutschland zurück. In den 50er-Jahren sah er sich erneut antise
mitischer Hetze ausgesetzt. Das veranlasste ihn, die rein schriftstellerische Laufbahn zu verlassen; in Essays, als Journalist und Redner engagierte er sich fortan für die Aufarbeitung der NS-Zeit. Von einem „beschädigten Leben“sprach am Donnerstag der Museumsleiter Michael Niemetz, in einem Land, in dem über die nationalsozialistischen Verbrechen lange bevorzugt geschwiegen wurde. Allen, die dies taten, hielt Einstein den Spiegel vor. Ohne die Herren von und zu, die Schleichers, Papens, Freislers, Globkes, Flicks und Krupps, getrieben von Herrschsucht, Profitgier, Größen- und Rassenwahn, wäre ein so mörderisches Regime nicht möglich geworden, klagt er in der Dokumentation „Eichmann. Chefbuchhalter des Todes“an, aus der Rudolf Guckelsberger ebenfalls las.
Auch Ilona Einstein (91), die Witwe des 1983 gestorbenen Autors, trug
Gedichte vor. Darunter jenes atemraubende, in dem Einstein mit 60 aneinander gereihten Partizipien schildert, was er in seinem Leben getan. Es endet mit der zögerlichen Frage „Gelebt?“und der erregten Antwort „Geträumt vom LEBEN“. Nur das Wort „geschrieben“habe ihr Mann in dieser Aufzählung vergessen, merkte die Witwe an.
Kongenial begleitet haben die Lesung mit einem Mix aus Klezmer und Jazz Joe Fessele am Klavier und Norbert Streit mit Klarinette, Saxophon und Querflöte.
Siegfried Einsteins Schicksal sei ein Lehrbeispiel, wie Judenfeindlichkeit inmitten der Gesellschaft aufbrechen könne und was sie anzurichten imstande sei, sagte Oberbürgermeister Gerold Rechle. Das müsse man sich gerade in einer Zeit, in der der Antisemitismus wiedererstarke, vor Augen führen. Rechle dankte allen, die den Abend gestaltet haben, und dem Freundeskreis des Museums für finanzielle Unterstützung. Besonders hob er Rolf Emmerich hervor, der unschätzbare Dienste geleistet habe, Siegfried Einstein dem Vergessen zu entreißen.
Die Gesellschaft für Geschichte und Gedenken will am 30. November, Siegfried Einsteins Geburtstag, eine Gedenktafel am ehemaligen Kaufhaus Einstein in der Kapellenstraße anbringen. Die GGG-Vorsitzende Elisabeth Lincke überreichte Ilona Einstein ein Foto der Tafel.
Der nie verheilte Bruch
Auch die kleine, feine Sonderausstellung im Museum dokumentiert den nie verheilten Bruch in Siegfried Einsteins Leben. Zeugnisse einer wohlbehüteten Kindheit sind zu sehen und ein Glückwunschschreiben des Laupheimer Bürgermeisters Konrad an die Firma Einstein, die 1932 ihr Hundertjähriges feiert. Doch schon wenige Monate später zertrümmert SA-Pöbel die Fensterscheiben, wird Siegfried von Mitschülern mit Steinen beworfen und von seinen Eltern auf ein Schweizer Internat geschickt. 1938 wird das Kaufhaus „arisiert“; die Eltern können Deutschland auf den letzten Drücker verlassen.