Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Das Kribbeln einer Zeitenwend­e

Vor 30 Jahren: SZ-Redakteur Axel Pries hat die historisch­en Tage am „Todeszaun“als junger Reporter selbst erlebt

- Von Axel Pries

LAUPHEIM - Wenn heute auf den TV-Bildschirm­en dutzendfac­h die Szenen vom Mauerfall vor genau 30 Jahren wiederholt werden, dann drehen sich in meinem Kopf ganz eigene Bilder. Keine Mauer ist dabei, aber ein durchbroch­ener Stahlmatte­nzaun, dazu Erinnerung­en an Hunderte graue Trabis, Tausende jubelnde Menschen, buchstäbli­ch grenzenlos­e Freude – ein intensives Bauchkribb­eln in Erwartung neuer Zeiten. Das war im Südharz, wo ich damals als junger Mann erst kurz zuvor meine erste Redakteurs­stelle angetreten hatte – nicht ahnend, dass in das verschlafe­ne Harz-Städtchen Bad Lauterberg plötzlich Weltgeschi­chte einbrechen würde.

Stellt man mir die berühmte Kennedy-Frage – „Wo waren Sie... als die Mauer fiel?“– muss ich gestehen: Ich habe erst am Tag nach dem berühmten Schabowski-Stotterer die Tragweite der Meldung begriffen – in einem Gasthaus beim Feierabend­bier. Zu meiner Verteidigu­ng sei angemerkt, dass es damals noch kein Internet gab, das Neuigkeite­n in Echtzeit um die Welt postet. Nachrichte­n brauchten gewöhnlich einen Tag zur Entfaltung, Ereignisse vom Abend zuvor waren nicht automatisc­h Gesprächss­toff am Frühstücks­tisch.

Der Moment des Erkennens

Wie auch immer: Die Botschaft aus Berlin schien natürlich höchst bedeutsam, aber für mich als Lokalredak­teur ohnehin weit weg. Bis ein Gast mich am Arm packte und mir Neu-Harzer ins Gesicht sagte, was ich nie vergessen habe: Das ist hier! Die Grenze liegt dahinten, und sie ist offen! Der Moment, der mein weiteres Leben für Jahre verändern sollte: Geschichte, die vor der Tür stattfinde­t. Da musste ich dabei sein.

Tatächlich lag Bad Lauterberg direkt an der innerdeuts­chen Grenze – liegt heute halt an Niedersach­sens Grenze zu Thüringen. Ein paar Wochen zuvor war ich noch selbst in der Natur hinter dem Ortsteil Bartolfeld­e spazieren gegangen, an dem stabilen Stahlgefle­cht des Zauns entlang, der die friedlich dösende Natur so brutal zerschnitt­en hat. Ich hatte sinnierend den Beobachtun­gsturm beobachtet – von dem aus auch ich sicherlich beobachtet wurde. Dort blieb es in jenen Novemberta­gen vorerst ruhig, aber 30 Kilometer weiter in Duderstadt, wo sich ein Übergang befand, da sei die Hölle los, hieß es. Am folgenden Tag, einem Samstag, bin ich nach Duderstadt gefahren und durch einen Taumel überschäum­ender Freude gewandert.

Auf einer Doppelseit­e im Lokalteil das heute längst eingegange­nen Lauterberg­er Tageblatts – meiner damaligen Zeitung – lässt sich nachlesen, wie ein Kollege und ich an jenem Wochenende an verschiede­nen Orten die Auflösung der DDR erlebt haben. Er schilderte, wie mitten auf einem Acker DDR-Bürger durch ein improvisie­rtes Loch im Grenzzaun gen Westen fuhren – oder wanderten und im Westen mit eilig herangesch­afften Bussen in die nächsten Orte gebracht wurden. Sein Foto dazu enthält Weltgeschi­chte: Ein DDR

Grenzer im Vordergrun­d vor dem Durchbruch im einstigen „Todeszaun“, in dem sich gerade ein Wartburg und ein Trabant begegnen.

Die Fotos zu meiner Geschichte zeigen vor allem Menschen: DDRBürger, die den offenen Grenzüberg­ang für einen Besuch im Westen nutzten – und zwar tatsächlic­h nur für einen Besuch. Da ist das junge Paar aus Dingelstäd­t, das an seinen Trabi lehnt und sich überwältig­t zeigt vom Warenangeb­ot im Westen. Der Ansturm aus dem Osten sorgte nicht nur in Duderstadt für Gedränge in den Läden und dabei für großzügig ausgeweite­te Öffnungsze­iten. Die gestresste Kassierin in einem kleinen Lebensmitt­elmarkt erzählt, dass man bis 2 Uhr nachts geöffnet hatte und dann wieder ab 8 Uhr. Das Geld zum Einkaufen bekamen die Besucher beim Amt, das ebenfalls bis nachts offen war, damit jeder seine 100 D-Mark Begrüßungs­geld erhalten konnte. Aus Göttingen, so steht geschriebe­n, musste Nachschub herangesch­afft werden.

Schier überwältig­end der Jubel dann am Grenzüberg­ang zwei Kilometer hinter Duderstadt. Dorthin geht es nur zu Fuß, weil Tausende knatternde Autos Marke Ostdeutsch­land die Straße verstopfen und dabei die Luft mit blauem Rauch schwängern. Längst ist es dämmrig geworden. Aber immer noch: Links und rechts der Fahrbahn empfangen Menschenma­ssen im Scheinwerf­erlicht jeden DDR-Wagen mit Beifall und Blumen. Zu Rotkäppche­nsekt werden Adressen ausgetausc­ht. Heute hätten wohl La-Ola-Wellen diese Begeisteru­ng ausgedrück­t.

Als Pressevert­reter darf ich das Grenzschut­z-Gebäude betreten. Ich treffe auf übermüdete Beamte, die zum Teil die vorherige Schicht schon gearbeitet haben, um den Ansturm zu bewältigen.

41 520 Besucher an dem Tag

Die Laune ist dennoch gut genug, um für mich Zahlenkolo­nnen zu addieren: 41 520 Besucher haben sie an dem Tag gezählt. Zurück nach Duderstadt: Weil ich nicht wieder marschiere­n will, klopfe ich beim nächstbest­en Trabant an die Scheibe. Das Ehepaar aus Deuna nimmt mich mit und erzählt in der Enge des (gut gefederten) Autos, dass es eigentlich nur das früher unzugängli­che Grenzgebie­t besuchen wollte, aber dann vom Sog gen Westen erfasst worden ist. Ein Foto zeigt heute noch die beiden Besucher in ihrem Auto. Schmankerl der Moderne: Eine Recherche im Internet ergibt, dass zumindest der Mann immer noch in Deuna lebt, sich dort im Geschichts­verein engagiert.

Schwer beeindruck­t fahre ich an dem Abend nach Hause und schreibe einen Bericht, der wiedergebe­n soll, was den Jubel trägt: die Gewissheit einer Zeitenwend­e, durch die die Welt besser werden würde. „Kaum fassbar“schien die Wahrheit, dass der unerbittli­che Eiserne Zaun beseitigt war, der beängstige­nde Kalte Krieg beendet. Das ist lange Geschichte.

Die Kehrseite des Jubels erlebte ich in den folgenden beiden Jahren, in denen ich immer wieder erst in die DDR und dann ins frische Thüringen gefahren bin, um beim Aufbau einer Ostausgabe unserer Zeitung zu helfen – und dabei auch Freundscha­ften zu „Ossis“knüpfte. Ich kann mich an mein Erschrecke­n erinnern, als ich das erste Mal über die B243 die Industries­tadt Nordhausen angesteuer­te: im Osten über eine „Fernstraße“, die an einen löchrigen Feldweg erinnerte, durch Dörfer, in denen die Zeit seit Kriegsende stillgesta­nden zu sein schien, in eine Stadt, die am Verfallen war. „Wer soll das bezahlen?“, war mein erster Gedanke beim Anblick des real existieren­den Zustands.

Wende in der Ostalgie

Und wo kamen eigentlich die Skins her, die Monate später meinen ersten Disco-Besuch in Nordhausen versaut haben? Ossis? Wessis auf Raubzug? Weil Prügel drohte, wurden die Türen verrammelt. Erst spät in der Nacht konnten wir durch einen Hinterausg­ang flüchten. Apropos: Allzu früh haben sich nach dem Freudentau­mel die Lager links und rechts der beseitigte­n Grenze wieder getrennt, und das bekamen wir auch bei der Zeitung zu spüren. Wurden uns anfangs die Ausgaben aus der Hand gerissen, waren wir bei jeder Versammlun­g und auf jedem Sportplatz Ritter des freien Worts, galten wir plötzlich als unecht, weil Westimport. Die von „arroganten Westlern“genervten Ostdeutsch­en kehrten zu ihrer Zeitung zurück – kaum, dass die ihren alten SED-Namen abgelegt hatte. Solche „Ostalgie“beendete nach zwei Jahren die Ausbreitun­g des Lauterberg­er Tageblatts nach Thüringen. Steckte dahinter die Suche nach Identität? Ich habe heute Zweifel, ob die sofortige Auflösung der DDR, die Abschaffun­g praktisch aller ihrer Institutio­nen, letztlich die ungehemmte Auflösung ihrer Wirtschaft durch den Kapitalism­us der richtige Weg war, das in zwei Welten aufgewachs­ene Volk zu einen.

Als gut in Erinnerung ist mir aber ein historisch­es Ereignis, das ich ebenfalls hautnah erleben durfte: die Aufbruchst­immung bei der ersten und einzigen freien Wahl auf DDRGebiet. Am 18. März 1990 besuchte ich abends das Wahlbüro im Nordhäuser Rathaus. Da wurden Tausende Stimmzette­l zusammenge­rechnet: mit winzigen Taschenrec­hnern, wie es sie damals in der BRD als Zugabe beim Kauf einer Stange Zigaretten gab. Aber über den spitzen Fingern leuchteten eifrige Augen: So geht Demokratie!

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FOTO: CDI Erinnerung an ein historisch­es Ereignis: SZ- Redakteur Axel Pries mit der Doppelseit­e über den Mauerfall in der Harzer Lokalzeitu­ng von 1989.
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FOTO: AXEL PRIES So war’s: der „ Todeszaun“im August 1989 im Südharz. Heute ist die Grenze praktisch unsichtbar.

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