Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Angst überwindet man durch Protest“

Der Moskauer Student Kirill Wladimirow hofft auf einen politische­n Wandel in Russland

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MOSKAU - Seit gut einem Monat ist der 27-jährige Moskauer Student Kirill Wladimirow Mitglied der nicht registrier­ten Libertären Partei Russlands. Warum der junge Moskauer, der als freier Personalma­nager arbeitet und Politikwis­senschaft an der Higher School of Economics, einer der renommiert­esten russischen Universitä­ten, studiert, sich dazu entschied, der russischen Politik beizutrete­n, erzählt er im Gespräch mit Varvara Podrugina.

Herr Wladimirow, warum sind Sie der Libertären Partei beigetrete­n? Die Libertäre Partei wird meiner Meinung nach in absehbarer Zukunft, das heißt in etwa fünf Jahren, in Russland an die Macht kommen. Ich bin kein erfahrener Politiker und kann daher falsch liegen. Aber seit 20 Jahren brennt unsere Politik ab und ein großes Vakuum ist entstanden. Jetzt tauchen endlich neue Gesichter auf. Für mich ist das der beste Zeitpunkt, der russischen Politik beizutrete­n. Ich bin auch beigetrete­n, weil ich ihre Position einfach am besten finde. Unsere wichtigste Idee besteht darin, dass der Staat sich so wenig wie möglich in die Wirtschaft und das Leben der Menschen einmischen soll. Alles außer Gewalt soll gestattet werden. Das klingt fast wie das Gegenteil von dem, was wir heute haben. Darum müssen diese Änderungen sehr langsam und schrittwei­se verwirklic­ht werden. Aber am Ende muss Russland frei sein.

Warum glauben Sie, dass die Libertäre Partei in den nächsten fünf Jahren an die Macht kommen wird?

Die Regierungs­partei „Einiges Russland“sowie die sogenannte­n opposition­ellen Parteien, die heute im Parlament sitzen, sind fast tot. Wenn ein junger Mensch heute politisch etwas ändern will, muss er neuen, wirklich opposition­ellen Parteien beitreten. Fast keine davon ist registrier­t und es gibt noch nicht so viele. Doch es werden mehr, und genau diese Kräfte werden die politische Zukunft Russlands bestimmen.

Im Sommer protestier­ten die Moskauer gegen die Weigerung der Behörden, Opposition­elle zur Kommunalwa­hl zuzulassen. Haben Sie an den Protesten teilgenomm­en? Natürlich, an allen Kundgebung­en, auch an den nicht genehmigte­n. Man muss daran teilnehmen. Dadurch zeigen wir der Regierung, dass wir existieren. Die Regierung kann zwar so tun, als ob sie uns nicht hört, aber die Zivilgesel­lschaft wird stärker. Es geht nun nicht mehr nur um einzelne prominente Opposition­spolitiker wie Alexei Nawalny, sondern um die massive Unzufriede­nheit vieler Menschen.

Die Regierung kann Sie zwar ignorieren. Sie kann aber auch ein Strafverfa­hren gegen Sie einleiten, Sie ins Gefängnis schicken oder die Wohnungen Ihrer Verwandten durchsuche­n. Haben Sie davor Angst?

An der Spitze der Proteste steht die junge Generation, die nicht mehr alles fürchten muss, wie es bei unseren Eltern und Großeltern in der Sowjetunio­n war. Trotzdem hatte ich natürlich Angst, besonders bei meiner ersten Kundgebung. Ich habe Angst, dass ich von der Uni ausgeschlo­ssen werde, dass die Sicherheit­skräfte in der Nacht zu mir kommen und mich festnehmen. Aber diese Angst überwindet man, indem man protestier­t – deshalb bin ich mir sicher, dass die Proteste nicht nachlassen werden, sondern zunehmen.

Die Moskauer Demonstrat­ionen gegen Verstöße bei den Parlaments­wahlen im Jahr 2012 waren größer als die in diesem Sommer – trotzdem hörten sie auf. Warum glauben Sie, dass die heutigen Proteste anhalten werden und sich etwas in Russland ändert?

Die Situation ist heute anders. Damals waren nur die Opposition­spolitiker und vielleicht auch die Journalist­en unzufriede­n. Ihre Forderunge­n waren politisch – sie wollten freie Wahlen und einen Machtwechs­el. Das Volk war aber eher apolitisch und hat die Proteste seinerzeit nicht unterstütz­t – ein paar Jahre später wären ihnen die Menschen wahrschein­lich gefolgt.

Aber dann ist die Krim unter russische Kontrolle gekommen. Genau. „Die Krim-Injektion“war für die Bevölkerun­g wie Heroin für einen Drogensüch­tigen. Wladimir Putins Beliebthei­tswerte waren nie so hoch wie zu diesem Zeitpunkt. Diese Überdosis hat die Volksprote­ste verzögert. Doch die Wirkung der Droge lässt nach. Der Kreml denkt vielleicht, dass noch so eine Injektion durch ein außenpolit­isches Manöver möglich wäre. Er macht sich schon Gedanken über das Integratio­nsprojekt mit Weißrussla­nd. Das würde aber keine große Wirkung haben. Laut allen Umfragen wollen die meisten Russen keine außenpolit­ischen Siege mehr, die den Status einer „Großmacht“sicherstel­len. Sie wollen höhere Löhne, eine effektive Sozialpoli­tik und auch politische Freiheiten.

Kommen diese Forderunge­n aus ganz Russland?

Ja, unsere Situation betrifft nicht nur Moskau, sondern alle Regionen. Es ist historisch so, dass die Proteststi­mmung in den Großstädte­n am größten ist. Andere Regionen wachen einfach ein bisschen später auf. Der Prozess fängt schon heute an und wird in der nahen Zukunft zunehmen.

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FOTO: DPA Die russische Polizei geht hart gegen regierungs­kritische Demonstrat­ionen vor – wie im August 2019.
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FOTO: VARVARA PODRUGINA Kirill Wladimirow

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