Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Essen ist den Deutschen nicht besonders viel wert“
Der Verhaltensökonom Winfried Neun erklärt, warum billiges Obst und Fleisch uns anziehen
BERLIN - Vor dem Spitzentreffen von Regierungsvertretern, Einzelhandel und Ernährungsindustrie am Montag werden erneut Warnungen vor zu niedrigen Lebensmittelpreisen laut. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) fordert, dass bei zunehmenden Anforderungen an die Landwirte auch die Preise für Lebensmittel im Supermarkt steigen müssten. Der Einzelhandel dürfe nicht das „Prinzip des niedrigsten Preises“hochhalten, sagte Weil den Zeitungen der FunkeMediengruppe. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) will sogar rechtliche Schritte gegen Preisdumping bei Lebensmitteln einleiten. So könne keine Wertschätzung für die Produkte und deren Erzeuger entstehen, sagte Klöckner am Sonntag. Auch der Wirtschaftspsychologe Winfried Neun verlangt ein Umdenken. Im Gespräch mit Nina Jeglinski fordert er, dass der Handel Billigfleisch aus dem Sortiment nimmt und die Verbraucher ihre Gewohnheiten ändern.
Warum greifen Verbraucher in Deutschland so gerne zu billigen Lebensmitteln?
Dafür gibt es drei Gründe. Unser Gehirn ist sehr faul, das heißt, wir arbeiten gerne intuitiv aus dem Bauch raus. Wenn wir dauernd mit Billigangeboten zugeschüttet werden, speichert unser Gehirn das als etwas Positives ab und verbindet das damit, bei Billigangeboten spontan zuzugreifen. Zweitens: In Deutschland gilt Verzicht immer als etwas sehr Negatives. Wenn ich hochwertigere Produkte kaufe, muss ich irgendwo sparen. Aber Verzicht ist beim Klimawandel die einzige Chance, das Thema in den Griff zu bekommen. Und drittens: Deutschland ist ein Volk der Sparer, und das macht sie sehr anfällig für Billigpreise.
Warum sind die Menschen in Frankreich und Italien bereit, viel mehr für Lebensmittel zu zahlen?
Die Esskultur ist komplett verschieden. In Deutschland sind Pausen und Essen nicht besonders viel wert, im Süden hat das einen sehr hohen Stellenwert. Aber es gibt in Deutschland bei den jüngeren Menschen einen Trend, mehr Geld für Essen auszugeben und sich Zeit für das Essen zu nehmen, aber das ist alles noch am Anfang und längst kein Massenphänomen. Im Süden sind Essenspausen fest integrierter Bestandteil des Tages, zudem werden dort wichtige Geschäftsabschlüsse und Verhandlungen während des Essens getätigt, das ist hier weitgehend unbekannt.
Wieso erklären Verbraucher, ihnen sei Tierwohl wichtig, aber das Kaufverhalten ist komplett anders?
Das Gehirn reagiert mit einer Schmerzvermeidungsstrategie, das heißt, der Verbraucher geht hin und sagt, heute esse ich einmal kein Fleisch oder kaufe ein teures Produkt. Aber das sind einmalige Entscheidungen,
kurzfristige Aktionen, um das Schuldgefühl und den damit verbundenen Schmerz zu beseitigen. Viel wichtiger wäre es, im Gehirn eine Lustgewinnungsstrategie aufzubauen – Lust auf hochwertige Lebensmittel aufzubauen. Dieser Prozess ist langfristig angelegt. Zudem muss es einen Sinn haben, dass man etwas verändert. Die Sinnhaftigkeit eines veränderten Ernährungsverhaltens muss verinnerlicht werden, Fakten wie bessere Blutwerte und mehr Leistungsfähigkeit reichen dafür nicht. Das ist für das Gehirn zu abstrakt. Der Verzicht auf Fleisch kann nur langsam anerzogen werden.
Wer soll das leisten?
Schule, Elternhaus, Politik und die Wirtschaft, alle sind in der Pflicht. Die Wirtschaft muss mutig sein und Impulse setzen und sagen „bei uns gibt es kein Billigfleisch mehr, dafür nur noch hochwertiges Fleisch“.
Sollten die großen Discounter wie Lidl und Aldi Billigfleisch aus dem Sortiment nehmen?
Ja. Bisher wird immer nur in Kampagnen so getan, dass man umsteuern will. Aber es wird weiter Billigfleisch verkauft. Das muss sich ändern. Und auch die Produzenten müssen sich bewegen. Man kann Verhaltensweisen ändern, systematisch und konsequent, damit muss man aber irgendwann einmal anfangen.
Wie lange dauert so eine Verhaltensänderung?
Sechs Monate bis ein Jahr, das ist ein längerer Prozess. Es muss ein Gefühl entstehen, dass die Leute sagen, ich möchte dabei sein, wenn sich was verändert. Ganz wichtig ist, dass es positive Ansätze gibt