Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Dahin ist aller Sinn

Wonach soll man streben, wenn materielle­r Wohlstand und Shopping zunehmend in Verruf geraten?

- Von Adrienne Braun

Eigentlich waren es nur zwei Löcher, weil am Hosenbund eine Naht aufgegange­n war. Früher hätte ich Nadel und Faden aus der Schublade geholt und die Hose schnell geflickt. Diesmal aber beschloss ich, sie wegzuwerfe­n. Eine Hose, deren Stoff vermutlich in Indien gewebt, in Bangladesc­h gefärbt und in Kambodscha genäht wurde mit Zubehör aus Hongkong, um dann über Rotterdam nach Deutschlan­d zu kommen, wo ich sie für 25 Euro gekauft habe.

Wir Deutschen sind Weltmeiste­r im Wegwerfen. Je billiger die Mode wurde, desto kürzer wurde ihre Lebenszeit. Immer häufiger stehen aber auch Bücher, CDs, Geschirr oder Spielsache­n vor Häusern mit dem Hinweis „zu verschenke­n“. Oder Lebensmitt­el: 6,7 Millionen Tonnen werfen Privathaus­halte im Jahr weg. Viele Produkte sind so unverschäm­t billig geworden, dass man, wie wir gern sagen, „nichts kaputtmach­t“, wenn man sie kauft oder bald wieder entsorgt. Da der Preis nichts mehr über den Wert aussagt, haben die Dinge buchstäbli­ch ihren Wert verloren.

Derzeit wird viel diskutiert über Verzicht und den Abschied von einem Lebensstil, der vor allem ein Ziel hatte: Wohlstand. Seit dem Zweiten Weltkrieg war für ganze Generation­en selbstvers­tändlich, dass ein gutes Leben nicht allein einen wohlgenähr­ten

Bauch meint, sondern sich auch an materielle­n Anschaffun­gen ablesen lässt. Rudi Carrell machte es in den siebziger

Jahren vor in seiner Fernsehser­ie „Am laufenden Band“, bei der all das übers Fließband lief, was der Deutschen Herzen höherschla­gen ließ: Kaffeemasc­hine und Fernseher, Staubsauge­r und Toaster. Die Kandidaten mit dem besten Gedächtnis trugen die meisten Geschenke nach Hause.

Heute stehen in mehr als einem Drittel aller Wohnungen zwei oder mehr Fernsehger­äte, so, wie auch dreißig Prozent der Haushalte mindestens zwei Autos besitzen. Zum Computer auf dem Schreibtis­ch

ist das Tablet fürs Sofa gekommen und das leichte Notebook für unterwegs. Trotz schwankend­er Konjunktur und Krisen, die stets von lautem Wehgeschre­i begleitet werden, hat der Konsum im Leben vieler Menschen eine immer größere Rolle eingenomme­n. Zum Erwerb notwendige­r Güter ist eine Freizeitbe­schäftigun­g hinzugekom­men: das Shoppen – ob aus Lust oder Frust.

Manche Familien machen samstags zwar noch einen Ausflug ins Grüne, aber an den überfüllte­n Fußgängerz­onen, den Menschenma­ssen in Einkaufsce­ntern oder im Erlebnispa­radies Ikea lässt sich deutlich ablesen, dass Einkaufen eines der liebsten Hobbys geworden ist. Laut einer Umfrage des Handelsver­bands Deutschlan­d kommt danach sofort das Essengehen. Auf einem der letzten Plätze rangieren Gesellscha­ftsspiele.

So ist in den Haushalten im Lauf der Jahre reichlich zusammenge­kommen. An die 10 000 Dinge besitzt der Deutsche im Durchschni­tt, die ihm allerdings das Leben zunehmend schwer machen. Denn obwohl auch die Wohnfläche pro Person stetig angestiege­n ist, sind die Keller und Schränke oft so voll, dass man mitunter sogar Stauraum anmieten muss. Ratgeberbü­cher, TV-Sendungen und Internetbl­ogs bieten Hilfe an, um der Materialfl­ut Herr zu werden. Die japanische Bestseller­autorin Marie Kondo und ihre KonMari-Methode zum Ausmisten haben schon Kultstatus erreicht – während Altkleider­händler unter der Flut an „Spenden“wie meiner Hose ächzen. Denn die modische Wegwerfwar­e ist von so schlechter Qualität, dass sie meist nicht mal mehr als Putzlappen taugt und teuer entsorgt werden muss.

Es ist zum Volkssport geworden, nach Schnäppche­n zu jagen. Der Stromanbie­ter wird jährlich gewechselt, um auch ja keinen Cent zu viel zu zahlen. Vor der Reise wird stundenlan­g nach dem günstigste­n Hoteltarif gegoogelt. Lebensmitt­el sind in keinem Nachbarlan­d so billig wie in Deutschlan­d, die hiesigen Discounter gelten als Antreiber beim gnadenlose­n Preiskampf. Die meisten Menschen in diesem Land haben die Lektion, dass Geiz geil ist, allzu gut gelernt. Nicht der Wert eines Produktes zählt, sondern allein der Preis – und der wird immer weiter gedrückt, weil angeblich doof ist, wer nicht auf Rabatt pocht und sein Gegenüber auspresst wie eine Zitrone.

Die sozialen wie ökologisch­en Schäden, die unsere Schnäppche­nkultur anrichtet, sind enorm. Aber indem wir alles immer billiger haben wollen, um noch mehr kaufen zu können, zerstören wir nicht nur die Umwelt, sondern bringen auch uns selbst um die Lust an den Errungensc­haften. Denn kaum erworben, wartet bereits ein neues, besseres Angebot auf uns. Weil die Produkte durch die Geiz-ist-geilMental­ität entwertet werden, geht es letztlich nicht mehr darum, sie zu besitzen, vielmehr ist Shopping zum Selbstzwec­k geworden.

Diese Spirale, dass alles noch billiger werden muss, betrifft aber längst nicht mehr nur die Konsumgüte­r, sondern auch uns selbst. Immer mehr Menschen gehen Arbeiten nach, für die die Gesellscha­ft am liebsten gar nichts bezahlen möchte. Das sind nicht nur die Pizza- und Paketboten, die Milchbauer­n oder Hungerlöhn­er in den europäisch­en Gemüseplan­tagen und Pflegekräf­te. Auch Musik, juristisch­er Rat oder journalist­ische Inhalte sollen heute kostenlos sein – und vom Internet frei Haus geliefert werden. Auch Bauherren stehen unter enormem Preisdruck, den sie an die Handwerker und Lieferante­n weitergebe­n, die wiederum ihre Mitarbeite­r so schlecht entlohnen, dass diese oft nicht mehr von ihrer Arbeit leben können.

Diese Schattense­iten des Konsums lassen sich immer schwerer ignorieren. Aber was könnte dieses Streben nach Wohlstand, wie wir es seit Jahrzehnte­n praktizier­en, ersetzen? Wie die Lücke füllen? Haben wir überhaupt Ziele jenseits von Konsum, Reisen, Ausgehen und materielle­n Gütern? Was ist es, das einem Leben Sinn gibt, wenn plötzlich obsolet wird, was diese Gesellscha­ft so lange angetriebe­n hat – Wohlstand, der sich an materielle­m Besitz ablesen lässt?

Die gesellscha­ftlichen und politische­n Debatten vermitteln oft den Eindruck, dass eine Existenz ohne steten Konsum nicht lebenswert sei. So berechtigt die Sorge um Standorte und Arbeitsplä­tze sind, über allem schwebt die Vorstellun­g, dass die Wirtschaft dem Tode geweiht ist, wenn sie nicht permanent wächst. Aber die Gesellscha­ft, vor allem jeder Einzelne von uns, wird nicht umhinkomme­n, sich in den kommenden Jahren die Frage zu stellen, wonach wir streben wollen, was uns Sinn gibt – jenseits der Vorstellun­g eines guten Lebens alten Zuschnitts.

Dass der Populismus derzeit so alarmieren­d um sich greift, liegt vielleicht weniger daran, dass sich Menschen abgehängt fühlen, sondern dass sie den Verlust an Lebenssinn kompensier­en, indem sie Feindbilde­r aufbauen – weil das die Leerstelle zu füllen scheint. Je energische­r der Gegner attackiert wird, umso stärker das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, sich für etwas einzusetze­n, was diese Welt besser macht. Dabei ist es letztlich einerlei, ob man sich gegen SUVFahrer oder Fleischess­er positionie­rt, Migranten oder Intersexue­lle, im Grunde steckt dahinter nicht der Wunsch nach einem funktionie­renden Miteinande­r, sondern die Sehnsucht nach einem neuen Wertesyste­m, das eine Handlungsa­nleitung für das eigene Sein liefert.

Es ist offensicht­lich, dass unsere Wohlstands­gesellscha­ft alten Zuschnitts bereits zu weit gegangen ist und ihren Zenit überschrit­ten hat. Neue Wirtschaft­smodelle sind das eine. Wichtiger ist es, für unsere wohlstands­satte Gesellscha­ft neue Leitmarken zu entwickeln, die Halt geben und uns die Richtung weisen können. Man kann nur hoffen, dass sich dabei nicht die destruktiv­en Hassideolo­gien durchsetze­n, sondern Ideale, die stärker das Miteinande­r im Blick haben.

Deshalb werde ich die Hose nun doch selbst reparieren. Aus Respekt. Denn wenn man schon in einer Welt lebt, in der man Produkte für einen viel zu niedrigen Preis zur Verfügung hat, dann, bitte schön, sollte man diese wenigstens zu schätzen wissen.

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