Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Dahin ist aller Sinn
Wonach soll man streben, wenn materieller Wohlstand und Shopping zunehmend in Verruf geraten?
Eigentlich waren es nur zwei Löcher, weil am Hosenbund eine Naht aufgegangen war. Früher hätte ich Nadel und Faden aus der Schublade geholt und die Hose schnell geflickt. Diesmal aber beschloss ich, sie wegzuwerfen. Eine Hose, deren Stoff vermutlich in Indien gewebt, in Bangladesch gefärbt und in Kambodscha genäht wurde mit Zubehör aus Hongkong, um dann über Rotterdam nach Deutschland zu kommen, wo ich sie für 25 Euro gekauft habe.
Wir Deutschen sind Weltmeister im Wegwerfen. Je billiger die Mode wurde, desto kürzer wurde ihre Lebenszeit. Immer häufiger stehen aber auch Bücher, CDs, Geschirr oder Spielsachen vor Häusern mit dem Hinweis „zu verschenken“. Oder Lebensmittel: 6,7 Millionen Tonnen werfen Privathaushalte im Jahr weg. Viele Produkte sind so unverschämt billig geworden, dass man, wie wir gern sagen, „nichts kaputtmacht“, wenn man sie kauft oder bald wieder entsorgt. Da der Preis nichts mehr über den Wert aussagt, haben die Dinge buchstäblich ihren Wert verloren.
Derzeit wird viel diskutiert über Verzicht und den Abschied von einem Lebensstil, der vor allem ein Ziel hatte: Wohlstand. Seit dem Zweiten Weltkrieg war für ganze Generationen selbstverständlich, dass ein gutes Leben nicht allein einen wohlgenährten
Bauch meint, sondern sich auch an materiellen Anschaffungen ablesen lässt. Rudi Carrell machte es in den siebziger
Jahren vor in seiner Fernsehserie „Am laufenden Band“, bei der all das übers Fließband lief, was der Deutschen Herzen höherschlagen ließ: Kaffeemaschine und Fernseher, Staubsauger und Toaster. Die Kandidaten mit dem besten Gedächtnis trugen die meisten Geschenke nach Hause.
Heute stehen in mehr als einem Drittel aller Wohnungen zwei oder mehr Fernsehgeräte, so, wie auch dreißig Prozent der Haushalte mindestens zwei Autos besitzen. Zum Computer auf dem Schreibtisch
ist das Tablet fürs Sofa gekommen und das leichte Notebook für unterwegs. Trotz schwankender Konjunktur und Krisen, die stets von lautem Wehgeschrei begleitet werden, hat der Konsum im Leben vieler Menschen eine immer größere Rolle eingenommen. Zum Erwerb notwendiger Güter ist eine Freizeitbeschäftigung hinzugekommen: das Shoppen – ob aus Lust oder Frust.
Manche Familien machen samstags zwar noch einen Ausflug ins Grüne, aber an den überfüllten Fußgängerzonen, den Menschenmassen in Einkaufscentern oder im Erlebnisparadies Ikea lässt sich deutlich ablesen, dass Einkaufen eines der liebsten Hobbys geworden ist. Laut einer Umfrage des Handelsverbands Deutschland kommt danach sofort das Essengehen. Auf einem der letzten Plätze rangieren Gesellschaftsspiele.
So ist in den Haushalten im Lauf der Jahre reichlich zusammengekommen. An die 10 000 Dinge besitzt der Deutsche im Durchschnitt, die ihm allerdings das Leben zunehmend schwer machen. Denn obwohl auch die Wohnfläche pro Person stetig angestiegen ist, sind die Keller und Schränke oft so voll, dass man mitunter sogar Stauraum anmieten muss. Ratgeberbücher, TV-Sendungen und Internetblogs bieten Hilfe an, um der Materialflut Herr zu werden. Die japanische Bestsellerautorin Marie Kondo und ihre KonMari-Methode zum Ausmisten haben schon Kultstatus erreicht – während Altkleiderhändler unter der Flut an „Spenden“wie meiner Hose ächzen. Denn die modische Wegwerfware ist von so schlechter Qualität, dass sie meist nicht mal mehr als Putzlappen taugt und teuer entsorgt werden muss.
Es ist zum Volkssport geworden, nach Schnäppchen zu jagen. Der Stromanbieter wird jährlich gewechselt, um auch ja keinen Cent zu viel zu zahlen. Vor der Reise wird stundenlang nach dem günstigsten Hoteltarif gegoogelt. Lebensmittel sind in keinem Nachbarland so billig wie in Deutschland, die hiesigen Discounter gelten als Antreiber beim gnadenlosen Preiskampf. Die meisten Menschen in diesem Land haben die Lektion, dass Geiz geil ist, allzu gut gelernt. Nicht der Wert eines Produktes zählt, sondern allein der Preis – und der wird immer weiter gedrückt, weil angeblich doof ist, wer nicht auf Rabatt pocht und sein Gegenüber auspresst wie eine Zitrone.
Die sozialen wie ökologischen Schäden, die unsere Schnäppchenkultur anrichtet, sind enorm. Aber indem wir alles immer billiger haben wollen, um noch mehr kaufen zu können, zerstören wir nicht nur die Umwelt, sondern bringen auch uns selbst um die Lust an den Errungenschaften. Denn kaum erworben, wartet bereits ein neues, besseres Angebot auf uns. Weil die Produkte durch die Geiz-ist-geilMentalität entwertet werden, geht es letztlich nicht mehr darum, sie zu besitzen, vielmehr ist Shopping zum Selbstzweck geworden.
Diese Spirale, dass alles noch billiger werden muss, betrifft aber längst nicht mehr nur die Konsumgüter, sondern auch uns selbst. Immer mehr Menschen gehen Arbeiten nach, für die die Gesellschaft am liebsten gar nichts bezahlen möchte. Das sind nicht nur die Pizza- und Paketboten, die Milchbauern oder Hungerlöhner in den europäischen Gemüseplantagen und Pflegekräfte. Auch Musik, juristischer Rat oder journalistische Inhalte sollen heute kostenlos sein – und vom Internet frei Haus geliefert werden. Auch Bauherren stehen unter enormem Preisdruck, den sie an die Handwerker und Lieferanten weitergeben, die wiederum ihre Mitarbeiter so schlecht entlohnen, dass diese oft nicht mehr von ihrer Arbeit leben können.
Diese Schattenseiten des Konsums lassen sich immer schwerer ignorieren. Aber was könnte dieses Streben nach Wohlstand, wie wir es seit Jahrzehnten praktizieren, ersetzen? Wie die Lücke füllen? Haben wir überhaupt Ziele jenseits von Konsum, Reisen, Ausgehen und materiellen Gütern? Was ist es, das einem Leben Sinn gibt, wenn plötzlich obsolet wird, was diese Gesellschaft so lange angetrieben hat – Wohlstand, der sich an materiellem Besitz ablesen lässt?
Die gesellschaftlichen und politischen Debatten vermitteln oft den Eindruck, dass eine Existenz ohne steten Konsum nicht lebenswert sei. So berechtigt die Sorge um Standorte und Arbeitsplätze sind, über allem schwebt die Vorstellung, dass die Wirtschaft dem Tode geweiht ist, wenn sie nicht permanent wächst. Aber die Gesellschaft, vor allem jeder Einzelne von uns, wird nicht umhinkommen, sich in den kommenden Jahren die Frage zu stellen, wonach wir streben wollen, was uns Sinn gibt – jenseits der Vorstellung eines guten Lebens alten Zuschnitts.
Dass der Populismus derzeit so alarmierend um sich greift, liegt vielleicht weniger daran, dass sich Menschen abgehängt fühlen, sondern dass sie den Verlust an Lebenssinn kompensieren, indem sie Feindbilder aufbauen – weil das die Leerstelle zu füllen scheint. Je energischer der Gegner attackiert wird, umso stärker das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, sich für etwas einzusetzen, was diese Welt besser macht. Dabei ist es letztlich einerlei, ob man sich gegen SUVFahrer oder Fleischesser positioniert, Migranten oder Intersexuelle, im Grunde steckt dahinter nicht der Wunsch nach einem funktionierenden Miteinander, sondern die Sehnsucht nach einem neuen Wertesystem, das eine Handlungsanleitung für das eigene Sein liefert.
Es ist offensichtlich, dass unsere Wohlstandsgesellschaft alten Zuschnitts bereits zu weit gegangen ist und ihren Zenit überschritten hat. Neue Wirtschaftsmodelle sind das eine. Wichtiger ist es, für unsere wohlstandssatte Gesellschaft neue Leitmarken zu entwickeln, die Halt geben und uns die Richtung weisen können. Man kann nur hoffen, dass sich dabei nicht die destruktiven Hassideologien durchsetzen, sondern Ideale, die stärker das Miteinander im Blick haben.
Deshalb werde ich die Hose nun doch selbst reparieren. Aus Respekt. Denn wenn man schon in einer Welt lebt, in der man Produkte für einen viel zu niedrigen Preis zur Verfügung hat, dann, bitte schön, sollte man diese wenigstens zu schätzen wissen.