Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Das soll ja Spaß machen“
Entwicklungspsychologe Malte Mienert rät Bezugspersonen, sich in der Fasnet nicht vor Kleinkindern zu verkleiden – Doch manche Eltern wehren sich
RAVENSBURG - Der Entwicklungspsychologe Malte Mienert wundert sich selber, weshalb ausgerechnet dieses Jahr die Debatte um negative Auswirkungen von Fasching und Karneval bei Kleinkindern enorm an Fahrt aufnimmt. Die pädagogischen Erkenntnisse dahinter seien nämlich längst bekannt. Mit Dirk Grupe sprach der Professor der Swiss School of Management darüber, wie sich trotzdem mit Null- bis Dreijährigen Fasnet feiern lässt und warum es zunehmend zu Spannungen kommt zwischen Eltern auf der einen Seite und Erzieherinnen und Erziehern auf der anderen.
Herr Mienert, Sie sagen, Kinder bis einschließlich drei Jahren sollen keinen Fasching feiern. Was soll daran falsch sein?
Das hat mit der Denkentwicklung der Kinder zu tun. Bis zu einem Alter von zwei bis drei Jahren begreifen Kinder die Welt, indem sie Dinge anfassen und in den Mund nehmen. Danach verlagert sich die Wahrnehmung langsam in den Kopf. Ihr wichtigster Zugewinn ist dann, dass sie Sachen wiedererkennen, auch wenn sich die Form oder der Abstand ändert. Das ist gar nicht so einfach und dauert bei Personen länger.
Warum?
Weil Personen viel variabler sind als Gegenstände. Die haben unterschiedliche Mimik, unterschiedliche Frisuren, unterschiedliche Kleidung an. Und da tun sich Kinder wirklich lange Zeit schwer, ein- und dieselbe Person wiederzuerkennen, wenn sich das Äußere ändert.
Wie beim Fasching …
… oder in der Weihnachtszeit. In den Vorlesungen zeige ich ein Video, da sieht man einen Dreijährigen auf dem Schoß seiner Schwester sitzen, vor den beiden steht die Mutter. Dann fängt die Mutter an, sich das Weihnachtsmann-Kostüm anzuziehen. In dem Moment, wo sie die Kapuze aufsetzt und den Bart hochnimmt, wird sie von dem Dreijährigen nicht mehr erkannt. Die Mutter sagt immer, „komm zu mir, komm doch her“. Der Junge aber schmiegt sich bei seiner Schwester an und ist so richtig verängstigt. Dann nimmt sie den Bart und die Kapuze ab – und genau in dem Moment streckt er die Arme aus und will zur Mutter.
Es geht also nicht um das Verkleiden des Kindes, sondern der Erwachsenen?
Genau, das ist manchmal ein Missverständnis. Die Kinder selbst nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass sie verkleidet sind. Bis zum zweiten Lebensjahr haben sie noch Schwierigkeiten, sich selbst überhaupt im Spiegel zu erkennen. Die Verkleidung ist der Wunsch der Eltern, damit das Kind niedlich aussieht. Aber das Anliegen im Fasching, „ich mache jetzt eine Transformation, ich bin mal jemand ganz anderes, ich spiele mit meiner eigenen Identität“, das ist für Kinder von null bis drei Jahren völlig uninteressant. Das beginnt erst ab ungefähr vier, wenn wir mit den Rollen spielen.
Welche Konsequenzen sollten Krippen und Kitas daraus ziehen?
In Krippen und pädagogischen Einrichtungen mit Kindern bis einschließlich drei Jahren empfehle ich: keine Fastnachtsfeiern, keine Verkleidungsfeste, kein Halloween. Ich weiß, Eltern finden das oft sehr merkwürdig, aber wenn sie Erzieherinnen oder Erzieher fragen, die werden einhellig sagen, dass diese Feste für die Kinder eine Belastung sind. Deshalb: kein Fasching für Kleinkinder, für Null- bis Dreijährige.
Das wird aber schwierig bei altersgemischten Einrichtungen, in denen Kinder von null bis sechs Jahren betreut werden.
In einer Einrichtung, in der sich die
Altersgruppen im Alltag völlig mischen, würde ich tatsächlich gar nicht feiern. Sind Krippe und Kita unter einem Dach, aber getrennt voneinander, könnten die Kita-Kinder ja feiern, sofern der Wunsch besteht. Dann aber bitte mit Rückzugsmöglichkeiten. Und die Dreijährigen machen gar nicht mit.
Manche Eltern mit Kleinkindern werden empört sagen: „Und zu Hause sollen wir auch auf die Fasnet verzichten?“Sollten sie?
Nein, ich halte nichts davon, wenn pädagogische Einrichtungen und Elternhäuser sich gegenseitig diktieren, was sie zu tun und zu lassen haben. Außerdem geht es um eine familiäre Kultur. Ich weiß, wie viele das genießen, mit den Kindern zu feiern. Bei den Null- bis Dreijährigen kann man aber ein bisschen runterschrauben, die Party reduzieren, die Abläufe relativ gleichhalten. Mein Vorschlag: Eine Bezugsperson verzichtet auf eine Maske oder die Schminke, beschränkt sich also auf die Kleidung. Oder eine Bezugsperson verkleidet sich und die andere bleibt unverkleidet. Das hilft dem Kind sehr.
Die Straßenfasnet muss trotzdem ausfallen, weil das Kind da völlig überfordert ist?
Nein, die muss nicht ausfallen. Wenn ein Kind Fremden begegnet, ist es ihm egal, ob die verkleidet sind oder nicht, das sind halt Fremde. Und solange die Bezugspersonen selbst nicht verkleidet sind, macht das für die Kinder keinen Unterschied.
Aber ist das nicht alles sehr übertrieben? Wir sind als Kinder schließlich auch nicht traumatisiert worden von Karneval oder Fasching …
… Vorsicht, wenn ich manchmal höre, „uns hat das doch auch gefallen als wir klein waren“, dann muss ich sagen: Ihr könnt euch nicht daran erinnern, wie es war, als ihr ganz klein wart. Das Kind wird auch keine langfristigen Folgen davontragen oder traumatisiert sein. Wir versuchen den Nachwuchs aber in den ersten drei Lebensjahren aus Situationen fernzuhalten, in denen er sich unbetreut von seinen Bezugspersonen befindet. Deshalb machen wir ja auch Eingewöhnungen in der Krippe oder in der Kita, bei denen ein Elternteil in den ersten Wochen mit dabei ist.
Wenn es aber, etwa bei der Fasnet, zu keinen langfristigen Folgen kommt, woran machen Sie dann überhaupt negative Auswirkungen für das Kind fest?
Grundsätzlich reagieren Kinder da unterschiedlich. Manche suchen aktiv die Nähe einer Bezugsperson, also rufen, schreien, weinen. Andere werden sehr still und schalten äußerlich ab. Sie lassen es über sich ergehen. Insofern kann man schwer aus dem äußeren Verhalten der Kinder schließen, wie es ihnen innerlich gerade geht. Forscher untersuchen daher den sogenannten Cortisolspiegel. Das heißt, sie nehmen Speichelproben von den Kindern. Wenn sie von ihrer Bezugsperson allein gelassen werden, das zeigen Studien, steigt der Cortisolspiegel bei diesen Kindern. Über eine längere unbetreute Zeit würde das ihre Immunabwehr schwächen, sie wären anfällig für Infektionen und Krankheiten. Dazu gehört die Fastnacht mit einem einmaligen Ereignis nicht. Gut für die Kinder ist das Erlebnis aber auch nicht.
Das klingt so, als ob Ihre Ausführungen zum wissenschaftlichen Allgemeingut zählen …
… absolut. Die entwicklungspsychologischen Hintergründe, die ich erläutert habe, sind altbekannt. Kleinkind-Pädagogen würden das niemals bestreiten. Die Bereitschaft, darüber zu diskutieren, hat aber zugenommen. Ich war selbst überrascht, dass nun gerade dieses Jahr die Debatte so losgeht.
Auf Widerstand dürften Sie bei Eltern und Erziehern aber trotzdem stoßen, oder?
Ja, teilweise bekomme ich sehr persönliche Angriffe zu spüren. Dann heißt es „die spinnen doch“oder „schon wieder wird eine unserer Traditionen genommen“. Deswegen betone ich immer, dass es dabei nicht um die Vorlieben der Erwachsenen geht, sondern darum, die Schwächsten zu schützen. Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt dieser Wehrhaftigkeit.
Der wäre?
Dabei geht es um die pädagogische Deutungshoheit zwischen Elternhaus und Kita. Früher hieß es, die Erzieherin wird schon wissen, was sie tut, das ist eine pädagogische Fachperson. Das wird von den Eltern zunehmend in Zweifel gezogen. Was sich manchmal festmacht an alten Traditionen, der Muttertagskarte, dass der Fasching gefeiert wird, den Bastelarbeiten. Anstelle von selbstbestimmtem oder freiem Spielen der Kinder haben Eltern zum Teil recht traditionelle Vorstellungen von Pädagogik, natürlich auch aus der eigenen Erfahrung. Dann heißt es schnell auch mal: „Habt ihr wieder nur gespielt oder habt ihr auch was gelernt?“
Der Leistungsgedanke zählt …
Richtig. Der Leistungsdruck nimmt schon beim Kleinkind zu. So kommen dann auch Argumente wie „Fasching ist vielleicht nicht schön, aber die Kinder müssen sich halt daran gewöhnen“. Das finde ich sehr schlimm, weil gerade Karneval oder Fastnacht für mich da überhaupt nicht reinpassen. Das soll ja Spaß machen. Aber wenn es für ein Kleinkind ein Fest ist, das keinen Spaß macht, es sich aber dazu zwingen muss, weil das Leben eben hart ist, dann finde ich das absurd.