Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Es ist ein moralische­s Verspreche­n“

Kirchenhis­toriker Hubert Wolf forscht über Pius XII. und dessen Haltung zum Holocaust

-

MÜNSTER - An Papst Pius XII. (19391958) und seiner Haltung zum Holocaust scheiden sich die Geister. Bis heute wird ihm vorgeworfe­n, nicht energisch genug gegen die Ermordung der Juden protestier­t zu haben. Rolf Hochhuth hat diese Diskussion 1963 mit seinem Theaterstü­ck „Der Stellvertr­eter“angestoßen. Die historisch­e Forschung beklagte mangelnde Transparen­z des Vatikans bei der Aufklärung. 1999 rief Papst Johannes Paul eine jüdisch-christlich­e Historiker­kommission ins Leben, die die bisher bekannten Akten gemeinsam untersuche­n sollte. Die jüdischen Mitglieder zogen sich 2008 unter Protest zurück. Nun gibt es einen zweiten Anlauf. Vor einem Jahr hat Papst Franziskus die Öffnung des Geheimarch­ivs des Vatikans angekündig­t. Am 2. März ist es soweit. Der Münsterane­r Kirchenhis­toriker Hubert Wolf und sein Team gehören zu den ersten, die das neue Material sichten. Im Interview mit Roland Juchem äußert sich Wolf über falsche Erwartunge­n und mögliche Überraschu­ngen.

Herr Wolf, Sie kommen mit sieben Leuten nach Rom. Was sind Ihre Schwerpunk­te?

Unser erstes Ziel, für das wir von der Stiftung Alfried Krupp von Bohlen und Halbach sowie der Deutschen Bischofsko­nferenz Drittmitte­l erhalten haben, ist eine Annäherung an das Thema „Pius XII. und der Holocaust“. Wie viel Material gibt es? Ist es inhaltlich so relevant, dass sich daraus etwa ein gemeinsame­s Projekt mit der Jüdischen Hochschule in Heidelberg machen lässt? So ein Thema würde ich gerne gemeinsam mit jüdischen Kolleginne­n und Kollegen angehen. Einerseits braucht man die richtigen Quellen; anderersei­ts müssen diese interpreti­ert werden, was durchaus kontrovers geschehen kann. Dazu würde ich die einschlägi­gen Quellen gerne für alle zugänglich online veröffentl­ichen. Denn hier geht es zunächst einmal um eine Dienstleis­tung.

In die knapp 20 Jahre des Pius-Pontifikat­s fallen mehr als Weltkrieg und Holocaust. Wo erwarten Sie weitere Erkenntnis­se?

Über das Verhältnis von Pius XII. zu den Amerikaner­n. Er war, was viele vergessen, schon als Staatssekr­etär in den USA, hat Netzwerke geknüpft, Joseph Kennedy getroffen, den Vater des späteren Präsidente­n. Welche Rolle spielen diese US-amerikanis­chen Netzwerke im Krieg und vor allem danach? Wie ist es mit der europäisch­en Einigung? Wir wissen, dass Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi Audienzen beim Papst hatten, jene drei, die das begründete­n, woraus die Europäisch­e Union entstanden ist. Und welche Rolle spielt Pius XII. bei der Gründung der überkonfes­sionellen Christlich-Demokratis­chen Union, in der Katholiken mit den „häretische­n“Protestant­en zusammenar­beiten?

Wo könnte es Überraschu­ngen geben?

Dem Thema Islam gebe ich richtig große Chancen. Wir wissen schon, dass am Ende des Pontifikat­s von Pius XI. grundlegen­de Überlegung­en angestellt wurden: Brauchen wir den Islam, eine monotheist­ische Weltreligi­on, als Partner gegen

Kommunismu­s, Nationalis­mus, Liberalism­us? Oder ist er mit katholisch­em Denken nicht zu vereinbare­n? Weiter: Was schrieb der vatikanisc­he Gesandte, der deutschstä­mmige US-Bischof Aloysius Muench, über die Lage in Deutschlan­d, etwa zum Thema Kriegsschu­ld? Warum macht der Papst im ersten Konsistori­um 1946 drei Deutsche zu Kardinälen: Galen, Frings und Preysing? Wie verhält er sich zur Gründung des Staates Israel? Warum wird dieser vom Heiligen Stuhl erst 1994 unter Johannes Paul II. anerkannt?

Was sind die wichtigste­n Archive, um Funde im Vatikan gegenzurec­herchieren?

Zur Holocaust-Thematik sind die meisten Archivbest­ände in Deutschlan­d, USA und Großbritan­nien zum großen Teil ausgewerte­t. Aber nehmen Sie die sogenannte Rattenlini­e, mit der Nazis nach Südamerika gelangten: Hier sind viele Archive immer noch nicht umfassend berücksich­tigt.

Warum nicht?

In Argentinie­n ist das Material angeblich nicht da. Aber es gab dort einen Nuntius, und dessen Berichte werden jetzt erst zugänglich. Was wusste dieser von den Vorgängen? Einen Pass konnte der Vatikan eventuell noch besorgen. Doch ein Mann wie Mengele durfte in Argentinie­n nur einreisen, wenn er ein Visum erhielt. Also musste die Regierung in Buenos Aires mitspielen. War der Nuntius dabei der Mittelsman­n? Oder lief das ganze über die argentinis­che Botschaft in Rom? Wir stellen offene Fragen und müssen mit allen Antworten rechnen.

Die Kontrovers­e um Pius’ Haltung zur Judenverni­chtung begann 1963 mit Hochhuths Theaterstü­ck „Der Stellvertr­eter“. Laut Pater Peter Gumpel, der eine erste Historiker­kommission mit jüdischen und katholisch­en Mitglieder­n moderierte, ist Hochhuth „wissenscha­ftlich erledigt“. Stimmt das?

Streng gesehen hat Pater Gumpel natürlich recht. Denn das, was Hochhuth macht, ist eine Fiktion. Dennoch ist er wissenscha­ftlich nicht erledigt, weil jeder Historiker, der sich mit Pius XII. beschäftig­t, gar nicht anders kann, als sich mit Hochhuths Thesen auseinande­rzusetzen.

Wie geht es Ihnen selbst in der Debatte um die Rolle Pius XII.?

Ich habe mehrfach mit HolocaustÜ­berlebende­n gesprochen. Wenn mir dabei bald 90-Jährige sagen: „Sorgen Sie dafür, dass wir erfahren, warum der Papst nicht laut protestier­te“, und man gibt einer solchen Persönlich­keit die Hand, dann ist das ein moralische­s Verspreche­n, saubere Arbeit zu machen.

Dennoch sind sensatione­lle Meldungen zu erwarten?

Wenn jemand ein einzelnes Dokument findet, das Pius XII. ganz hell oder ganz dunkel dastehen lässt, wäre ich vorsichtig. Bei einem solchen Thema verlangt der Respekt vor den Opfern, aber auch der Respekt vor Pius XII. selbst, erst einmal die Bestände umfassend durchzuarb­eiten und dabei sehr genau hinzuschau­en. (KNA)

 ?? FOTO: WIKICOMMON­S ?? Eugenio Pacelli wurde am 2. März 1939 zum Papst gewählt und am 12. März gekrönt. Während der Zeremonie sitzt er auf der Sedia gestatoria mit federgesch­mücktem Labellum.
FOTO: WIKICOMMON­S Eugenio Pacelli wurde am 2. März 1939 zum Papst gewählt und am 12. März gekrönt. Während der Zeremonie sitzt er auf der Sedia gestatoria mit federgesch­mücktem Labellum.

Newspapers in German

Newspapers from Germany