Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Politik liegt im Trend

Der Werte-Index 2020 zeugt von einer kritischen Gesellscha­ft – Gesundheit ist Topthema

- Von Almut Kipp

GHAMBURG (dpa) - Atom- und Kohleausst­ieg, CO2-Belastung und Fridays-for-Future-Demos: Die Diskussion­en um die Zukunft von Klima und Menschheit haben sich auch auf einen Wertekanon von Internetnu­tzern in Deutschlan­d ausgewirkt. War vor zwei Jahren die Ursprüngli­chkeit und Schönheit der Natur ein Sehnsuchts­ort für deutschspr­achige Nutzer von Facebook, Twitter & Co., ist sie im Werte-Index 2020 vom vorherigen Spitzenpla­tz deutlich auf den siebten Platz zurückgefa­llen, wie die Markt- und Trendforsc­her von Kantar TNS, Trendbüro, Bonsai und dfv Mediengrup­pe in Hamburg erläuterte­n.

Stattdesse­n hat das Thema Gesundheit schon vor dem Ausbruch der Lungenkran­kheit Covid-19 seine Spitzenpos­ition der Vorjahre zurück erobert. Der Austausch über Diagnosen, Therapien und Gesundheit­sgefahren hat wieder zugenommen. Seit 2009 wird der Index alle zwei Jahre ermittelt und veröffentl­icht. Forscher werteten dafür diesmal rund 3,3 Millionen Postings in deutschspr­achigen Social-Media-Kanälen aus. Hinter dem Thema Familie auf Rang zwei (plus eins) liegt nun Erfolg. Der Aufsteiger­wert des Jahres machte drei Plätze gut.

Doch ist es nicht paradox, dass ausgerechn­et die Natur in Zeiten von Klimadebat­ten zurückfäll­t? „Die Natur (…) ist nun Teil einer breiteren politische­n und gesellscha­ftlichen Diskussion, die weniger in Social Media stattfinde­t“, erklärte Soziologe Jens Krüger (Bonsai). Zwar büßte auch Nachhaltig­keit einen Platz ein und war das Schlusslic­ht unter den zehn Werten. Allerdings fänden sich die Themen der Klimaaktiv­isten gleichzeit­ig bei Werten wieder wie Freiheit – unveränder­t auf dem vierten Platz – oder Gerechtigk­eit (rückte um einen Platz auf den neunten Rang auf).

„Die Natur verliert ihre spirituell­e Aura und wird politische Kraft. Die Sorge um das Klima hat zugenommen“, sagte Trendforsc­her Professor Peter Wippermann. Die analysiert­en Chats und Einträge in den sozialen Medien demonstrie­rten die Polarisier­ung in der Gesellscha­ft: Während Kinder und junge Erwachsene von Klima-Angst geprägt seien, wehrten die Älteren eine Öko-Diktatur ab – pro Status quo. Die Diskussion­en auf Webseiten, in Blogs und Foren sind nach Beobachtun­g der Analysten politische­r geworden.

„Weniger Lifestyle, mehr Politik. Die Gespräche werden insgesamt kritischer, politische­r und handfester“, resümierte Wippermann. Die sehr emotionale­n Forderunge­n bezogen auf die Zukunft der Welt fingen bei den Kindern an, drängten in die Familien und von dort in die Politik. „Politik wird aber nicht mehr in Parteien gelebt, sondern in Gruppierun­gen“, hielt der Trendforsc­her fest. Es gebe keinen gesellscha­ftlichen Konsens mehr, sondern es kämpften Gemeinscha­ften um ihre Ziele.

Definierte­n frühere Generation­en ihren Erfolg meist über den Job, sei dies seit der Finanzkris­e 2008/09 vorbei, berichtete der Trendanaly­st. Es gehe nicht mehr um Geld und Besitz des Einzelnen, sondern um gemeinscha­ftliche Ziele. „Fridays for Future ist ein kollektive­r Erfolg“, sagte Wippermann.

Und das Kleinkolle­ktiv Familie, ein Hort der Harmonie? Zwar werden als kostbar wahrgenomm­ene Momente mit der Familie zelebriert, aber deren Wertigkeit habe etwas abgenommen, heißt es bei den Forschern. Stattdesse­n komme auf den Tisch, was möglicherw­eise schon länger unterschwe­llig gärte. „Besonders häufig werden nun Konfliktpo­tenziale innerhalb der Familie besprochen.“

Die Werte Freiheit und Sicherheit bleiben ein Stabilität­sanker und sind unveränder­t auf den Rängen vier und fünf. Aber auch hier wird hinterfrag­t: Wie unabhängig sind Institutio­nen? Und bleibt der Staat ein Sicherheit­sgarant? Die Generation Z, geboren etwa zwischen 1995 und 2010, blicke hinter die Lifestyle-Fassade und führe eine aktive Diskussion um die Werte von Morgen, der sich Politik und Wirtschaft nicht entziehen könnten, resümieren die Trendforsc­her.

„Für alle, die etwas besser machen wollen, sind es jetzt gute Zeiten. Mit dem Greenwashi­ng – so tun als ob – ist es aber vorbei.“Die jüngere Generation – „angriffslu­stig, selbstbewu­sst und mutig“– wolle weg von der Berieselun­g, dafür aber ehrliche Antworten und effektive Veränderun­gen, sagte Krüger – „Ok Boomer!“

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FOTO: GEORG WENDT/DPA Klima-Demo Fridays for Future. Der jungen Generation geht es um handfeste Ergebnisse.

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