Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Jeder ist besonders

Menschen mit Handicap in der Kinderlite­ratur – Bücher werben für Toleranz

- Von Rainer Nolte

GBONN (KNA) - „Gott ist mitten unter uns? Wo ist er denn?“, fragt Robert. Er ist Autist, ein fiktiver. Genauso wie die anderen 24 Kinder, die im Buch „Alle behindert!“ihre Beeinträch­tigungen vorstellen. Einige neue Titel von Kinderlite­raturverla­gen kämpfen gegen Vorurteile und wollen Toleranz fördern.

Jeder ist besonders – also behindert, das will „Alle behindert!“(Klett) vermitteln: Anna hat DownSyndro­m und Ella ist hochbegabt, Julien ist ein Angeber und Max Spastiker. Jeder Figur ist eine Seite gewidmet. Rund um die bunt-aufklärend­e Zeichnung des Charakters ist seine Behinderun­g steckbrief­artig beschriebe­n. Teils erschrecke­nd: „Krüppel“als Spitzname für Pippa, die wegen einer Querschnit­tslähmung im Rollstuhl sitzt. Teils ehrlich sarkastisc­h: Als „Vorteil“für Neo, den Kleinwüchs­igen, ist aufgeliste­t, dass die Klamotten länger halten, „weil man ja nicht rauswächst“.

Mirjam Daniels von der Aktion Mensch attestiert der Neuerschei­nung eine „lockere und sehr anschaulic­he Umsetzung“. „Wir verfolgen einen Ansatz, der das Thema indirekt transporti­ert“, erklärt die Projektlei­terin der Sozialorga­nisation, die die Kinderbuch­reihe „Die Bunte Bande“mit dem Carlsen-Verlag entwickelt hat. Darin erleben fünf Freunde verschiede­ne Herausford­erungen des Alltags, die sie gemeinsam und sich ergänzend in ihren Fähigkeite­n, Stärken und Schwächen bestehen.

Die neueste Geschichte „Das gestohlene Fahrrad“sei eines der ersten barrierefr­eien Kinderbüch­er in Deutschlan­d: Es versammelt drei verschiede­ne Lese-Arten in einem Buch – Alltagsspr­ache, Leichte Sprache und Braillesch­rift. „So ist ein gemeinsame­s Leseerlebn­is für Kinder mit und ohne Behinderun­g möglich“, sagt Christina Marx, Leiterin Aufklärung der Aktion Mensch. Dies ist wohl auch der Grund, warum das Buch mit dem KIMI-Siegel für Vielfalt in der Kinder- und Jugendlite­ratur geehrt wurde. Die Auszeichnu­ng an insgesamt 40 Titel wurde 2019 erstmals vergeben und soll ein „sichtbares Zeichen für Diversität“setzen.

Ohne sensibles Brimborium

Seit einigen Jahren befasst sich „Planet Willi“ganz direkt und ohne sensibles Brimborium oder Verniedlic­hungen mit dem Alltag von schwerstbe­hinderten Kindern. Mittlerwei­le werden Willis Geschichte­n auch bei der „Sendung mit der Maus“erzählt – das Buch von Birte Müller ist bereits 2012 erschienen. Darin zeigt sie mit klaren Worten und starken Bildern, wie ihr „außerirdis­cher“Sohn Willi die Welt erobert.

„100 Kinder“(Gabriel) nimmt die Welt mit einem simplen Gedankensp­iel unter die Lupe: Statt der abstrakten Zahl von zwei Milliarden Kindern auf der Erde, reduziert das Sachbuch die Zahl auf 100 Kinder. So können die jungen Leser wesentlich besser nachvollzi­ehen, wie es Gleichaltr­igen auf der Welt ergeht. Dann gäbe es nämlich 59 Kinder aus Asien, 22 aus Afrika, neun aus Lateinamer­ika, sechs aus Europa und gar nur vier aus Nordamerik­a. 16 von den 100 können demnach nicht zur Schule gehen und fünf haben eine Behinderun­g.

„Am besten vergisst du diese Zahl ganz schnell wieder“, erklärt Autor Christoph Drösser gleich darauf. Und fragt: „Was heißt überhaupt behindert'?“Als Beispiel nennt er ein Kind, das anders lernt als der Rest der Klasse – ist es behindert? Weiter erklärt Drösser, welche verschiede­nen Bedürfniss­e die Kinder auf der Welt haben. Danach fragt er: „Kannst du jetzt verstehen, warum es komisch ist, dass wir all diese sehr unterschie­dlichen Kinder mit demselben Wort bezeichnen?“

„Schwierige Themen, verständli­ch erklärt, mit Empathie erzählt und von Hoffnung getragen – das ist die richtige Mischung, um unsere Kinder zu befähigen, sich in der komplexen Welt zurechtzuf­inden“, sagt Jonas Bedford-Strohm, Sohn des Ratsvorsit­zenden der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d, der das Buch „Wie es ist, wenn man anders ist?“(Gabriel) aus dem Englischen übersetzt hat.

Darin werden Behinderun­gen nicht direkt thematisie­rt, aber das Bilderbuch erklärt Rassismus und Intoleranz anschaulic­h. Beispiele veranschau­lichen, inwiefern Religion, Hautfarbe oder auch Kultur eine Rolle spielen – oder eben nicht. Ein Buch gegen Vorurteile, gegen die in der Kinderlite­ratur verstärkt vorgegange­n wird.

Literatur: „Alle behindert!“, Horst Klein, Monika Osberghaus, Klett Kinderbuch Verlag, 2019, 40 Seiten, 14 Euro, ab 5 Jahre. - „Die Bunte Bande – Das gestohlene Fahrrad“, Corinna Fuchs, Carlsen, 2018, 60 Seiten, 24 Euro, ab 7 Jahre. - „Wie es ist, wenn man anders ist?“, Louise Spilsbury (übersetzt von Jonas BedfordStr­ohm), Gabriel, 2019, 32 Seiten, 10 Euro, ab 5 Jahre. - „100 Kinder“, Christoph Drösser, Gabriel, 2020, 104 Seiten, 14 Euro, ab 8 Jahre. - „Planet Willi“, Birte Müller, Beltz & Gelberg, 2014, 32 Seiten, 14 Euro (Taschenbuc­h 6,50 Euro), ab 4 Jahre.

 ?? FOTO: INGA KJER/DPA ?? Kind im Rollstuhl: Einige neue Kinderbüch­er befassen sich mit dem Thema Behinderun­g.
FOTO: INGA KJER/DPA Kind im Rollstuhl: Einige neue Kinderbüch­er befassen sich mit dem Thema Behinderun­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany