Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Erdogan fordert Nato-Hilfe
Türkei droht mit Öffnung ihrer Grenzen nach Europa
ISTANBUL (AFP) - Angesichts des sich zuspitzenden Konflikts um die syrische Provinz Idlib hat die Türkei von der Nato mehr Unterstützung gefordert – und mit einer Öffnung ihrer Grenzen zur EU für Flüchtlinge gedroht. Die Türkei werde ihre Grenzen für Flüchtlinge, „die nach Europa wollen“, nicht länger schließen, sagte ein ranghoher Regierungsvertreter am Freitag. Am Abend teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach einem Telefonat mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu via Twitter mit, die EU habe von der Türkei eine „Zusicherung“erhalten, dass Ankara sich an seinen Teil des Flüchtlingspakts
zwischen der EU und der Türkei halten wird. Die Nato sicherte der Türkei ihre Solidarität im Konflikt zu, stellte aber keine zusätzliche Unterstützung in Aussicht. Der Nordatlantikrat der Nato kam am Freitag zu einem Sondertreffen zusammen.
Der Konflikt zwischen der Türkei und syrischen Regierungstruppen war am Donnerstag eskaliert. Bei Luftangriffen auf türkische Stellungen in der Provinz Idlib starben 33 türkische Soldaten. Die Türkei reagierte mit Vergeltungsangriffen, bei denen am Freitag laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 20 syrische Soldaten starben.
ISTANBUL - Das Ziel heißt Stuttgart: Anas ist 27 Jahre alt und ein syrischer Medizinstudent aus Aleppo. Zusammen mit seiner Frau und seinen drei und sechs Jahre alten Kindern ist er am Freitagmorgen zur Vatan Caddesi gekommen, einer Istanbuler Ausfallstraße zur Autobahn Richtung Westen. Reisebusse stehen an der Straße bereit, die Flüchtlinge an die rund drei Fahrtstunden entfernte Landesgrenze zwischen der Türkei und Griechenland bei Edirne bringen sollen. „Wir haben in den sozialen Medien von den Bussen gehört und sind gekommen“, sagt Anas im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“, bevor er in den Bus einsteigt. Die Eltern seiner Frau leben in Stuttgart – und nun will die junge Familie auch dorthin. Hundert US-Dollar pro Passagier kostet die Busreise an die Grenze. Dass Anas und seine Familie jetzt im Bus sitzen, hat mit schweren Verlusten der Türkei im Krieg in der syrischen Provinz Idlib rund tausend Kilometer südöstlich von Istanbul zu tun.
Ebenfalls im Bus sitzt Azise, eine syrische Frau Mitte 50, die mit ihrem 14-jährigen Sohn gekommen ist. Sie leben seit acht Jahren im südtürkischen Adana und waren auf Verwandtenbesuch in Istanbul, als sie von der Öffnung der Grenzen hörten. Nun wollen sie nach Essen, wo zwei andere Söhne von Azise Zuflucht gefunden haben. „Wenn sie uns lassen, wenn sie uns nur gehen lassen“, sagt der 14-jährige immer wieder.
An diesem kühlen Morgen herrscht keine Jubelstimmung. Mehrere Flüchtlinge an der Vatan Caddesi sagen, in der Türkei, die 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat, gebe es für sie keine Perspektive. „Es sind einfach zu viele Syrer hier“, sagt ein junger Mann, der sich bisher mit Jobs im Textilsektor durchgeschlagen hat und jetzt in die EU will. „Alles ist besser als die Türkei“, sagt ein junges Paar, das aus Idlib geflohen ist. Ein junges Ehepaar mit einem etwa einjährigen Kind steigt im letzten Moment aus dem abfahrbereiten Bus wieder aus: „Wir haben Angst um unser Kind“, sagt der Vater. „Wir wissen ja nicht, wie es nach der Grenze weitergeht.“
Eigentlich hat sich die Türkei unter dem Flüchtlingsabkommen mit der EU aus dem Jahr 2016 verpflichtet, die Syrer an der Flucht nach Europa zu hindern. Doch nun sollen die Flüchtlinge drei Tage lang freie Fahrt nach Westen erhalten, melden türkische Medien. Bei Edirne waren schon in der Nacht die ersten syrischen Flüchtlinge aufgetaucht, die auf den Grenzübergang Pazarkule zuliefen, ohne dass die türkischen Grenztruppen einschritten.
Immer mehr Syrer treffen an der Abfahrtstelle an der Vatan Caddesi ein, um einen Platz in einem der Busse zu ergattern. Der erste fährt gegen 8 Uhr los, der zweite eine Stunde später. Inzwischen haben sich Dutzende Flüchtlinge versammelt, und fast im Minutentakt treffen neue ein. Syrische Aktivisten sagen, sie hätten die Busse selbst angemietet. Ein Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP hatte am Vorabend im Fernsehen gesagt, sein Land könne die Flüchtlinge nicht mehr halten.
Doch will Ankara wirklich die Tore nach Europa öffnen? Am Nachmittag melden türkische Medien von der Landgrenze zu Griechenland, syrische Flüchtlinge würden von den türkischen Behörden dort abgewiesen. Griechenland und das ebenfalls benachbarte Bulgarien verstärken ihre Grenztruppen. Einigen soll es trotzdem gelungen sein, die Grenze zu überqueren, auf der griechischen Insel Lesbos kommen Flüchtlingsboote aus der Türkei an. Von einer Massenflucht wie im Jahr 2015 kann aber keine Rede sein. Das Außenamt in Ankara erklärt, es gebe keine grundsätzliche Änderung der türkischen Flüchtlingspolitik. Die Türkei will offenbar ein Signal an Europa schicken, ohne die EU allzu sehr zu verärgern. Bisher hatte sich die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan an das Abkommen mit der EU gehalten, vor allem weil ihr Land zum Magneten für Millionen von Menschen aus ganz Zentralasien, Nahost und Afrika werden könnte, wenn der Vertrag aufgekündigt wird. Dass Erdogan nun vorübergehend das Abkommen aussetzt, ist ein Zeichen von Panik und Verzweiflung in Ankara: Die Türkei steht im Syrienkrieg vor einem Desaster und will den Westen deshalb zum Eingreifen bewegen.
Mindestens 33 Soldaten waren am Donnerstagabend bei einem Luftangriff in der syrischen Provinz Idlib ums Leben gekommen. Damit sind seit Anfang Februar über 50 türkische Soldaten in Idlib getötet worden.
Erdogans Syrien-Politik liegt in Trümmern. Er hatte die türkische Armee nach Idlib geschickt, um die mit Ankara verbündeten Rebellen in der letzten Bastion der Regierungsgegner in Syrien vor dem Vormarsch der syrischen Armee zu schützen und die Flucht von rund einer Million Menschen aus der Provinz zu verhindern. Gleichzeitig will Erdogan mit dem Militäreinsatz ein Mitspracherecht der Türkei bei Entscheidungen über die Zukunft Syriens durchsetzen.
Erdogan, der im Syrien-Konflikt einen Sturz von Präsident Baschar alAssad anstrebt, hat der syrischen Armee ein Ultimatum gesetzt: Bis zu diesem Samstag sollen sich die Regierungsverbände aus Idlib zurückziehen, sonst werde die türkische Armee nachhelfen. Da Russland die Einheiten Assads unterstützt, drohen damit auch Auseinandersetzungen zwischen dem Nato-Land Türkei und der russischen Luftwaffe. Offenbar hoffte Erdogan darauf, dass Russland und Syrien im letzten Moment nachgeben und eine Rolle der Türkei im Nachkriegs-Syrien akzeptieren.
Der Tod der 33 Soldaten wirft Erdogans Pläne über den Haufen. Russland hat in Idlib die Lufthoheit. Das Moskauer Verteidigungsministerium erklärte am Freitag, die von dem syrischen Luftangriff getroffenen Soldaten seien zusammen mit „Terroristen“im Einsatz gewesen: So bezeichnen Russland und Syrien die Türkeitreuen Rebellen. Offiziellen türkischen Angaben zufolge starben die 33 Soldaten durch einen Angriff syrischer Kampfjets, doch einige Experten nehmen an, dass die russische Luftwaffe die Soldaten tötete.
Die Eskalation hängt mit der drastischen Verschlechterung der türkisch-russischen Beziehungen zusammen. Über Jahre kooperierten Ankara und Moskau in Syrien, obwohl sie auf verschiedenen Seiten des Konflikts stehen. Doch in Idlib können sie ihre Interessengegensätze nicht mehr ausblenden. Der Kreml will den Syrienkrieg mit einem Erfolg Assads in Idlib beenden. Erdogan telefonierte am Freitag mit Kremlchef Wladimir Putin, den er bald persönlich treffen will. Doch das wird kaum etwas an den Differenzen ändern.
Russland wolle die Türkei aus Syrien herausdrängen, schrieb Burhanettin Duran, ein außenpolitischer Berater Erdogans, in der Zeitung „Daily Sabah“. Moskau verlegte am Freitag zwei Kriegsschiffe vor die syrische Küste. In ihrer Not spielt die Türkei nun die Flüchtlingskarte und will so die Hilfe ihrer westlichen Partner einfordern, die sie in den vergangenen Jahren unter anderem mit dem Kauf des russischen Flugabwehrsystems S-400 verärgert hatte. Ob das gelingt, ist am Freitag fraglich. EU und Nato zeigen sich zwar bestürzt über die Eskalation in Idlib. Von einer konkreten Unterstützung der Türkei redet aber niemand.