Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Schweden eilt Richtung Herdenimmunität
Rund 600 000 Stockholmer sollen sich bis 1. Mai mit dem Coronavirus infiziert haben
GSTOCKHOLM - In Schweden blieb fast alles geöffnet seit Beginn der CoronaKrise. Beispielsweise alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich 9. Klasse, Kindergärten, Bars, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und gar einige Kinos. Empfehlungen überwogen Verbote. Die maximal 500 zugelassenen Menschen bei öffentlichen Versammlungen reduzierte man Ende März auf maximal 50. Das und ein Besuchsverbot in Altenheimen sind die bis dato einzigen Verbote.
Das Land verfolgt letztlich zwei Strategien: Zum einen soll eine Überlastung der Krankenversorgung vermieden werden, was bislang ausgezeichnet gelang. Es gibt, laut den Krankenhäusern, nach wie vor viele freie Corona-Betten. Anscheinend haben sich die sehr pflichtbewussten Schweden größtenteils an die dringenden Empfehlungen gehalten, daheim zu bleiben, wenn man sich auch nur leicht krank fühlt, und den Besuch von Risikogruppen zu vermeiden.
Laut Gesundheitsamt sieht es derzeit so aus, als ob das Land bei der täglichen Anzahl von Toten und Einweisungen in Intensivstationen wegen Corona die Spitze des Berges erreicht hat. Man liege in beiden Bereichen auf einem „Plateau“, so Anders Tegnell, Staatsepidemiologe im Gesundheitsamt, der die Corona-Politik des gut zehn Millionen Einwohner zählenden Landes anstelle der Politiker gestaltet. „Schweden lag in den letzten Tagen bei 60 bis 70 neuen Todesfällen am Tag im ganzen Land. Die hohen Werte an einigen Tagen kommen durch Nachregistrierungen zustande, die bis zu zwei Wochen umfassen können“, sagte Tegnell kürzlich (in Schweden werden auch nicht nur Tote in Krankenhäusern gezählt, sondern alle. Auch die, bei denen nicht ganz sicher war, ob Corona ausschlaggebend war oder eine andere Grundkrankheit).
Auf der anderen Seite will Schweden anscheinend so schnell wie möglich Herdenimmunität erreichen. Die beginnt laut Gesundheitsamt deutlicher zu greifen, wenn rund 60 Prozent der gesamten Bevölkerung das Virus irgendwann in sich hatten und dadurch immun geworden sind. Dann kann das Virus sich nicht mehr so schnell hin zu Risikogruppen ausbreiten, so der Grundgedanke.
Zudem können das normale Leben und die Wirtschaft schneller wieder in Gang kommen. Dies auch angesichts der Tatsache, dass es noch bis nächstes Jahr dauern könnte, bis ein Impfstoff weltweit verfügbar ist. Herdenimmunität geht schneller, und Schweden könnte wegen seiner lockeren Corona-Politik eines der ersten Länder der Welt sein, die sie erreichen.
Eine am Dienstag veröffentlichte Studie des schwedischen Gesundheitsamtes weist erstmals darauf hin, dass rund ein Drittel aller Stockholmer, das sind rund 600 000 Menschen, schon bis 1. Mai irgendwann mit dem Coronavirus angesteckt worden sind und dadurch Immunität erlangt haben. Die Studie basiert sowohl auf mathematischen Modellierungen als auch auf Tests bei 700 zufällig ausgewählten Stockholmern sowie der Anzahl der täglichen neuen Erkrankungsfälle. Auch eine zweite Studie der Universität Stockholm kommt zum Ergebnis, dass rund 30 Prozent aller Stockholmer bald immun sind, weil sie das Virus schon einmal in sich hatten.
In Frankreich hingegen, wo eine harte Verbots- und Isolierungsstrategie gilt, werden bis 11. Mai voraussichtlich nur sechs Prozent der Menschen schon angesteckt und immun sein. Dies ergab eine am Wochenanfang veröffentlichte Studie des renommierten Pariser Institut Pasteur. Auch WHO-Generaldirektor Tedros
dhanom Ghebreyesus sagte am Wochenanfang in einer globalen Einschätzung: „Vorläufige Daten deuten darauf hin, dass nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung infiziert wurde, nicht mehr als zwei bis drei Prozent.“
Den schwedischen Ansteckungsschutzexperten Johan Giesecke überraschen die im Vergleich zu Schweden sehr niedrigen französischen und weltweiten Erkrankungs- beziehungsweise Immunitätswerte nicht. „Die meisten Länder bis auf Schweden haben ja totale Lockdowns gehabt“, sagte er dem Sender SVT. „Da gab es nicht die gleiche Virusausbreitung wie in Schweden.“