Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Gehen, wenn nichts mehr geht
Der Spaziergang erlebt eine Renaissance und ist sogar Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten
DGer Nachbar träumt davon, mein Mann auch, eine Freundin hat es bereits getan, Bekannte ebenso: einfach losgehen. Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende zu sein. Dabei muss sie ja nicht wochenlang dauern und bis nach Hamburg führen wie bei besagter Freundin. Oder eine Alpenüberquerung miteinschließen wie bei den Bekannten, die an den Comer See gewandert sind. Das Verb „wandern“ist für diese Geschichte auch nicht ganz passend, denn es geht vor allem ums Spazierengehen. Das war in den vergangenen Wochen hochaktuell und ist es immer noch. Nach dem Motto: gehen, wenn nichts mehr geht.
Corona hat den Spaziergang zum Sport der Stunde gemacht. Er erlebt derzeit eine ungeahnte Renaissance. Denn schon früher – wir reden vom beginnenden 19. Jahrhundert – war spazieren gehen, flanieren und promenieren durchaus en vogue und der bürgerliche Spaziergang Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Wegbereiter im wahrsten Sinne des Wortes dafür war JeanJaques Rousseau, Philosoph und bekanntester Spaziergänger seiner Zeit. War Lustwandeln in den Jahrhunderten zuvor nur dem Adel vorbehalten, wurde spazieren gehen nun auch vom Volk als Bewegungsform gesehen, die einen bestimmten Zweck erfüllt: einen Ausgleich zum urbanen Leben zu schaffen, welches als belastend empfunden wurde. Das Aufsuchen der Natur hatte etwas Befreiendes.
Zurzeit stellt ein Spaziergang die willkommene Abwechslung zum Homeoffice dar. Kontaktbeschränkungen, geschlossene Restaurants und Geschäfte sowie verwaiste Büros haben auch bei jungen Leuten die Lust am Spazierengehen entfacht. Und das, obwohl sie einst als Jugendliche nur ausgesprochen widerwillig die Eltern am Sonntagnachmittag beim Gang durch die Stadt, durchs Wohnviertel oder in den angrenzenden Wald begleitet haben. Doch statt: „Lass uns mal einen Kaffee trinken“, hieß es auch bei ihnen in den vergangenen Wochen oft: „Lass uns mal spazieren gehen.“Zu zweit war das ja auch in Pandemie-Hochzeiten erlaubt.
„Corona hat dem Spaziergang zu mehr Beliebtheit verholfen“, ist sich Gudrun M. König sicher. Die Kulturwissenschaftlerin hat in Tübingen zu diesem Thema promoviert und liefert gleich die Erklärung mit:
Das Schlendern in der Natur sorge für einen Ausgleich, wenn andere Wege, um sich moderat fit zu halten, nicht mehr möglich sind – beispielsweise wegen geschlossener Fitnessstudios oder abgesagter Kurse des Sportvereins. Außerdem spiele auch die Kommunikation bei einem Spaziergang eine entscheidende Rolle. Beim Radfahren, wo der eine hinter dem anderen herhechelt, sei ein Gespräch schließlich nur schwer möglich. Fürs Einfach-losgehen braucht es nicht mehr als bequemes Schuhwerk. Die Füße benötigen weder Kettenöl noch Jahreskarte, und selbst die teuren Laufschuhe kann man sich sparen.
König ist nicht die Erste, die das Spazierengehen analysiert hat. Für das gemütliche Flanieren gibt es sogar tatsächlich eine eigene Wissenschaft: die Promenadologie. Hört sich ein wenig nach Loriot an und ist wohl eine der rarsten Knospen im bunten Strauß der Wissenschaften, der manchmal seltsame Blüten treibt. Entstanden ist das Fach in den 1980er-Jahren als Protest gegen eine Stadtplanung aus dem Elfenbeinturm. Politik und Architekten würden die Gebiete, die sie planen, gar nicht kennen und auf die Atmosphäre im Viertel keine Rücksicht nehmen, kritisierte damals der Schweizer Soziologe
Lucius Burckhardt – und gründete kurzerhand die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie, die er bis 1997 an der Uni Kassel lehrte. In Seminaren wird der Spaziergangswissenschaft auch an anderen Hochschulen gefrönt, so zum Beispiel in Bremen und Wien.
Ein fleißiger Student Burckhardts war Bertram Weisshaar. Der in einem Dorf bei VillingenSchwenningen aufgewachsene Weisshaar kämpfte bereits als Jugendlicher
für mehr Rad- und Gehwege in seiner Heimat. Nach einer Ausbildung zum Industriefotograf studierte er bei Burckhardt in Kassel Landschaftsplanung und ließ sich von seinem Professor mit der Promenadologie anstecken. Später unterrichtete er zwischenzeitlich sogar selbst die Spaziergangswissenschaft im Rahmen des Seminars Stadtwahrnehmung an der Universität Leipzig. Der mittlerweile 58Jährige hat bereits mehrere Bücher zum Thema verfasst und legt jetzt sein neuestes vor, das den Titel trägt „Einfach losgehen“.
Doch wenn das so einfach wäre! Zuvor muss man alles stehen und liegen lassen, auch Unerledigtes, sich losmachen und bewusst den Fuß vor die Tür setzen. Viele Menschen haben das mittlerweile verlernt. Doch: „Nichts führt dichter in die Welt hinein als das Gehen“, gibt Weisshaar mit auf den Weg. Für ihn ist das Gehen einer der unmittelbarsten Zugänge zu Welterfahrung. Egal, ob der Weg weit weg führt durch unberührte Natur oder sich durch die Häuserschluchten der Nachbarschaft schlängelt. Nicht umsonst wird ein kluger Mensch auch heute noch als „bewandert“bezeichnet. Ein Ausdruck, der sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und „aus eigener Erfahrung kennend“meint. Der Promenadologe sieht sich auch in der Tradition von Rousseau, der einst schrieb: „Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken.“
In seinem neuen Buch widmet sich Weisshaar allen möglichen Varianten des Gehens. Beginnend beim Wandern, über das Spazieren, Schlendern, Bummeln und Flanieren bis hin zum Streunen. Wohl dem Zeitgeist geschuldet schreibt er viel über das Weitwandern. Diese Art der Fortbewegung erlebte schon vor Corona einen wahren Boom, überall wurden plötzlich prämierte Weitwanderwege ausgewiesen. Für einen Promenadologen ein gefundenes Fressen. So propagiert auch Weisshaar: „Jedes Jahr pilgern 40 000 Deutsche nach Santiago di Compostela, 40 Prozent aus religiösen Gründen. Den Rest will ich abholen mit besseren Angeboten in Deutschland.“
Doch im Kern dreht sich bei dem 58-Jährigen, der eben auch neue Weitwanderwege konzipiert, tatsächlich alles ums einfache Gehen. Darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Speziell ums Spazierengehen. Wichtig sei dabei, dass es absichtlich zwecklos ist, schreibt er. Keinen Plan zu haben und sich von der Umgebung treiben zu lassen – genau das unterscheidet den Spaziergang vom Zweckweg. Man könne sich aber ein Ziel vornehmen, etwa das älteste Gebäude der Stadt oder einen besonderen Baum, sagt Weisshaar. Das Ziel aufzugeben und ganz woanders zu landen, sei dann die hohe Kunst des Spazierengehens.
Apropos Kunst – Weisshaar beschreibt in seinem neuen Buch auch viele Kunstschaffende, die dem Gehen eigene Projekte gewidmet haben. Und er zitiert Künstler zum Thema. Unter anderem den bekannten Grafiker Otl Aicher aus Rotis bei Leutkirch, der nach mehreren Wanderungen durch die Sahara zu der Einsicht kam: „zu unserer fortbewegung stehen um unser haus immer mehr gegenstände herum, jetzt auch noch das segelboot, das klappfahrrad und das geländeauto. nur weil wir nicht mehr gehen, laufen, wandern, schlendern, spurten, springen oder bummeln können. ich schreibe substantive wieder klein, aber das reicht sicher nicht. man muss wohl wieder beginnen zu gehen.“
Ausreden wie „Ich habe gar keine Zeit zum Zu-Fuß-gehen“lässt Weisshaar nicht gelten. Nicht fahren zu müssen, sondern gehen zu können sei ein Ausdruck von Reichtum – von Zeitreichtum. Wenn Corona irgendetwas Gutes mit sich gebracht hat, dann vielleicht, dass viele Menschen auch wegen Kurzarbeit vorübergehend mehr Zeit zur Verfügung haben. Und solange keine Ausgangssperre das Spazieren verbietet, wie etwa bis vor Kurzem noch in Spanien und Frankreich, fordert der Autor auf: „Geht! Geht! Geht!“
Bertram Weisshaar: „Einfach losgehen“. Verlag Eichborn. 253 Seiten, 20 Euro.