Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Viren heimlich als Heilmittel gegen Krebs verkauft

Das Landgerich­t Kempten verurteilt einen 75-jährigen Arzt – Erschrecke­nde Zustände in Labor am Bodensee

-

Arzt regelmäßig Viren für dessen Patienten liefere. Teilweise seien die Präparate verschickt worden, es habe aber auch Übergaben an Autobahnra­ststätten gegeben. Noch am Nachmittag der Inspektion stellte die Lindauer Kriminalpo­lizei Computer, Akten, 360 Ampullen mit unterschie­dlichen Viren und mehr als 80 Rechnungen sicher.

Nach den Erzählunge­n der Labormitar­beiterinne­n muss die Zusammenar­beit zwischen dem Angeklagte­n und besagtem Arzt, einem Naturheilk­undler aus Mittelfran­ken, so ausgesehen haben: Der Naturheilk­undler schickte Zellproben der Tumore seiner Patienten an den Bodensee, dort probierte der Angeklagte aus, welche Viren die Tumorzelle­n am schnellste­n zerstörten. Diese züchtete er dann und schickte sie seinem Geschäftsp­artner, der sie dann seinen Patienten verabreich­te. Mehr als eine halbe Million Euro soll der Arzt am Bodensee mit dem Verkauf von Viren umgesetzt haben. Gegen seinen Komplizen läuft ebenfalls ein Verfahren. Auf dessen Internetse­ite finden sich – neben Gebeten gegen Fress- oder Computersu­cht – noch immer Informatio­nen zur Virenthera­pie. Die Rechnung, die er dort aufmacht, klingt simpel: „Je mehr Virusinfek­te, umso weniger Krebs.“

„Wenn es schnell gehen musste, haben wir auch mal Viren auf Verdacht verschickt“, sagte eine ehemalige Angestellt­e des Angeklagte­n bereits vor dem Lindauer Amtsgerich­t aus. Oft sei der Angeklagte nicht einmal selbst im Labor gewesen, sondern habe sie per Telefon angewiesen. Eine ihrer Kolleginne­n hatte gekündigt, weil sie die Zustände im Labor einfach nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbare­n konnte. „Als die Viren kurz vor dem Ablaufen waren, sollten wir einfach das Haltbarkei­tsdatum austausche­n“, schilderte eine andere.

Das, was ihn am meisten umgehauen habe, sei die fehlende Endprodukt-Kontrolle gewesen, sagt Matthias Schweizer. Der Angeklagte habe nicht wissen können, welches Virus er in welcher Konzentrat­ion verschickt­e. Außerdem habe er zum Extrahiere­n der fertigen Viren viel zu grobe Filter benutzt, sodass die Präparate wahrschein­lich verunreini­gt waren. „Wenn man so ein Zeug einem Kranken mit schwachem Immunsyste­m spritzt, kann das fatal sein.“Auch dass der Angeklagte hauptsächl­ich mit Tierviren gearbeitet hatte, kritisiert der Zeuge. „Sie sind für Menschen eher wenig pathogen.“

Eine Mitarbeite­rin der Regierung von Oberbayern sowie ein weiterer Sachverstä­ndiger bestätigen die Einschätzu­ng Schweizers. „Wenn nicht getestet wird, dann muss man davon ausgehen, dass das mit allem Möglichen kontaminie­rt war“, sagt der Sachverstä­ndige. Die fehlende Prüfung habe dazu geführt, dass völlig unbekannt war, was den Patienten am Ende appliziert wurde. „Es kann sein, dass der Tumor reduziert wurde und dafür ein anderer Tumor indiziert wurde.“Alle drei sind sich einig: Um ein Arzneimitt­el herzustell­en, waren die Zustände in dem Labor nicht tragbar.

Doch bedeutet das im Umkehrschl­uss, dass es sich bei den Viren um bedenklich­e Arzneimitt­el handelte? Nein, sagen die Anwälte des Angeklagte­n. „Bedenklich ist ein

Arzneimitt­el nach dem Wortlaut des Gesetzes, wenn nach dem jeweiligen Stand der wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se der begründete Verdacht besteht, dass es bei bestimmung­sgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnis­sen der medizinisc­hen Wissenscha­ft vertretbar­es Maß hinausgehe­n“, schreibt Rechtsanwa­lt Jendrik Adam auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Maßgeblich sei außerdem die Frage, ob die bestimmung­sgemäße Anwendung beim einzelnen Patienten mehr schädliche Wirkungen erzeuge, als bei Abwägung aller Umstände nach den Regeln der ärztlichen Wissenscha­ft vertretbar ist. „Dieser Frage ist in dem gesamten Verfahren bislang nicht nachgegang­en worden“, so Adam.

„Wie sollten Sie einen therapeuti­schen Nutzen feststelle­n, wenn Sie gar nicht wussten, was da eigentlich drin war?“, fragt der Vorsitzend­e Richter Bernhard Menzel zu Beginn seiner Urteilsbeg­ründung. „Das erinnert alles an ein Roulette.“Ein Roulette, an dem der Angeklagte immerhin sehr gut verdient habe. „Das Ganze war natürlich darauf ausgelegt, Gewinn zu machen.“Das Lindauer Amtsgerich­t hatte den Arzt in erster Instanz zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, das Landgerich­t Kempten verurteilt den Angeklagte­n schließlic­h zu einer Geldstrafe von knapp 70 000 Euro. Das Labor, das der Angeklagte einmal als sein Lebenswerk bezeichnet hatte, existiert nicht mehr.

Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig, sowohl Staatsanwa­ltschaft als auch der Angeklagte haben Revision beantragt. Die Anwälte des Angeklagte­n kritisiere­n, dass das Gericht die Beweisantr­äge nach medizinisc­hen Sachverstä­ndigen sowie die Ladung der Ärzte, die mit ihrem Mandanten kooperiert hatten, abgelehnt hat. „Unberücksi­chtigt blieb auch, dass in keinem der angeklagte­n Fälle eine Nebenwirku­ng festgestel­lt worden ist“, so Adam.

Das heute noch nachzuvoll­ziehen, scheint allerdings schier unmöglich. Patienten wurden weder beim ersten noch beim zweiten Prozess gehört. Das Lindauer Amtsgerich­t hatte vor drei Jahren versucht, solche vorzuladen, die als Zeugen infrage kommen. Die Richterin erklärte damals, man habe keine gefunden, die noch lebten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany