Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Die Politik hat die Kinder vergessen“
Der Tübinger Forscher Sascha Neumann hat die Sorgen von Mädchen und Jungen während der Corona-Krise untersucht
einen deutlichen Rückgang der Zufriedenheit. Im Vergleich zu den anderen Ländern hat in Deutschland der Anteil an Zufriedenen bei Grundschulkindern stärker abgenommen als bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe. In Luxemburg war das beispielsweise umgekehrt. Ebenso sieht man bei den Kindern im Grundschulalter in Deutschland, dass sie auch einen stärkeren Rückgang bei ihrer allgemeinen Lebenszufriedenheit haben als die älteren Kinder und Jugendlichen.
Haben einige Länder etwas besser gemacht als andere?
Das ist aus den Daten unmittelbar schwer abzuleiten. Interessant ist erst einmal, dass es einige bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Ein Befund war, dass Kinder in Luxemburg viel häufiger angeben, Angst zu haben, wegen Sars-Cov-2 zu erkranken. Und das in einem Land, das mit Large-ScaleTesting versucht, eine hohe Sicherheit herzustellen. Daran sieht man, wie schwer es ist zu sagen, was die einzelnen Länder wirklich besser gemacht haben. Wenn aber in Deutschland 53 Pozent der Grundschulkinder während der Schulschließung fast nie in Kontakt zu ihren Lehrpersonen standen und in der Schweiz waren das nur 18 Prozent, dann muss man sagen, dass die Schweiz das wohl deutlich besser hinbekommen hat. Die Anforderung, den Unterricht und den Schulalltag in den digitalen Raum zu verlagern und trotzdem noch Kontakt zu haben, also nicht nur per Mail Aufgaben an die Eltern zu schicken, wurde offenbar ernster genommen, als das in Deutschland der Fall war.
Nun starten die Winterferien früher, Kontakte bleiben beschränkt. Wie wird sich das auf Kinder und Jugendliche auswirken?
Eine Verlängerung der Ferien hatten wir ja auch schon mal im Frühjahr, als die Osterferien vorgezogen wurden. Wenn das ein klar befristeter Zeitraum ist, dann kann man das als Kind oder Jugendlicher auch unter der Rubrik „Die Ferien sind verlängert“abhaken. Das finde ich an sich nicht so problematisch. Ich finde es eher problematisch, wenn umgesetzt wird, dass Klassen für längere Zeit in den Wechselunterricht gehen. Das führt zwar zur Verkleinerung der Klassen und ist für die Eindämmung der Infektionszahlen womöglich wichtig, aber die Frage ist dann letztlich, wie genau das umgesetzt wird. Im Moment habe ich da angesichts unserer Daten nicht viel Zutrauen, dass es verantwortlich umgesetzt wird und der Kontakt zu allen Schülerinnen und Schülern aufrecht erhalten bleibt. Das gilt auch jetzt schon mit Blick auf Kinder und Jugendliche in Quarantäne. Die
Kontaktbeschränkungen wirken sich natürlich so aus, dass es die persönlichen Kontakte zu Freunden und Angehörigen sein werden, die ihnen fehlen. Das schränkt sie in der Freizeitgestaltung erheblich ein, auch was den Besuch von Vereinen, Kursen und Freizeiteinrichtungen angeht.
Hat die Politik während der Corona-Krise die Belange der Kinder vergessen?
Ja, am Anfang auf jeden Fall. Es war ein bisschen besorgniserregend, wie Kinder überhaupt angesprochen worden sind in den politischen Diskussionen. Es ging mehr um die Frage, ob sie Virusüberträger sind und in welchem Ausmaß. Auch Jugendliche wurden so dargestellt, als ginge es ihnen nur ums Feiern und sie keine Solidarität mit der älteren Generation haben, weil sie sich nicht an die Vorgaben halten und zur Verbreitung des Virus maßgeblich beitragen. In diesem Sinne erschienen sie eher als Täter denn als Opfer. Außerdem gab es von politischer Seite kaum Bemühungen und Interesse daran, die Situation von Kindern und Jugendlichen durch Studien genauer zu beleuchten. Das war für uns ein
Motiv zu sagen, wir möchten gerne Kinder und Jugendliche selbst zu der Situation befragen.
Was sollten Politiker bei Entscheidungen für Schulen berücksichtigen?
Wenn man sich den Verlauf der politischen Debatte seit dem Frühjahr nochmal vor Augen führt, dann sieht man natürlich verschiedene Stufen der Aufmerksamkeit für Kinder und Jugendliche. Anfangs war es offenbar alternativlos, dass man Schulen und Kindertageseinrichtungen und Einrichtungen für Kinder außerhalb der Schule schließt. Das hat sich dann später verbessert und die Situation von Kindern und Jugendlichen wurde stärker wahrgenommen. Im Moment gibt es bei den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern schon das Bekenntnis, Schulen und Kindertageseinrichtungen so lange wie möglich offen zu halten. Ich glaube aber, dass an dieser Stelle nicht so stark die Kinder und Jugendlichen im Fokus stehen, sondern eigentlich geht es da eher darum, dass Schulen und Kindertageseinrichtungen eine Betreuungsfunktion haben, und die Möglichkeit für Eltern, arbeiten zu können, davon abhängt, dass diese Institutionen offen sind. Die Vereinbarkeitsfrage steht stärker im Vordergrund als das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen. Und das wäre meine Forderung: Das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen stärker in den Fokus zu rücken, weil man dann sieht, wie wichtig Schulen und Kindertageseinrichtungen als soziale Orte für die Kinder sind.
Befürchten Sie, dass die CoronaKrise noch stärkere Auswirkungen haben wird als bisher bekannt?
Ja, es gibt Anhaltspunkte, das zu befürchten. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Lebenszufriedenheit immer weiter absinkt je länger Beschränkungsmaßnahmen gelten. Ich will jetzt nicht gleich auf psychische Erkrankungen hinaus – Entwicklung von Angststörungen und Depressionen – aber man kann davon ausgehen: Je länger es geht, umso stärker schlägt es auf die Lebenszufriedenheit durch. Deswegen muss es das Ziel sein, diesen Zustand der Krise und Einschränkungen irgendwann überwunden zu haben und die jeweiligen Beschränkungen mit großem Augenmaß festzulegen und umzusetzen.