Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Zur Ausbeutung freigegeben
Der Zustand des Amazonas-Regenwaldes verschlechtert sich dramatisch – Brasiliens Präsident Bolsonaro weicht den Schutz weiter auf
MEXIKO-STADT - Diese Art von Nachrichten aus Brasilien erzeugen mittlerweile ein routinehaftes Schaudern. Alle paar Monate dringen aus dem südamerikanischen Land Informationen, wonach im größten Regenwald der Welt wieder Millionen Bäume gefällt oder bei Brandrodungen zerstört wurden. Wieder sind im Amazonas Hunderttausende Tiere verbrannt, Jaguare umgekommen, Kaimane verendet, Fische verkohlt. Ureinwohner sehen ihre Dörfer immer mehr eingekreist von Baggern, Bohrern und Brandschatzern. Regelmäßig empört sich die Welt darüber, vor allem in Europa und inzwischen auch in den USA, dass die Lunge der Welt immer mehr zur Wunde der Welt wird. In dem Regenwald finden 25 Prozent des globalen Kohlenstoff-Austauschs zwischen Atmosphäre und Biosphäre statt.
Aber der radikal rechte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro lacht darüber nur und sagt: „Der Amazonas gehört uns und wir können damit machen, was wir wollen.“Und damit meint er vor allem: Wir können ihn ausbeuten, so viel und so sehr wir es gerne wollen. Bolsonaro will noch mehr Flächen für Landwirtschaft, Bergbau und Energiegewinnung erschließen.
Es ist schwer, mit einem Politiker zu verhandeln, der Freude daran hat, Normen zu verletzen, radikal nationalistisch ist und den das globale Wohl nicht interessiert. Ganz Im Gegenteil. Bolsonaro erweckt manchmal den Eindruck, er freut sich daran, die Welt zu provozieren. Das zeigte der Streit mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und deutet sich mit dem künftigen US-Staatschef Joe Biden an. Mit dem Regierungswechsel in den USA verliert der Brasilianer allerdings mit Donald Trump einen weiteren großen Verbündeten bei dem Thema. Biden hatte Bolsonaro bereits im Wahlkampf zum Umdenken in der Amazons-Frage aufgefordert oder mit wirtschaftlichen Konsequenzen gedroht. Denn der Regenwald, der anderthalbmal die Fläche der Europäischen Union umfasst, ist längst nicht mehr dicht und geschlossen, sondern besteht aus Zigtausenden Fragmenten. Längst warnen Ökologen, dass der
Amazonas bei fortschreitender Entwaldung umkippen könnte. Der sogenannte Tipping-Point sei nah. Das Weltrauminstitut INPE schätzt, dass die kritische Marke bei einer Vernichtung von 20 bis 25 Prozent der Gesamtfläche liegt.
Anfang der Woche schlugen Umweltund Klimaschützer wieder einmal Alarm. Zuvor hatte INPE erklärt, dass die Regenwaldvernichtung zwischen August 2019 und Juli 2020 ungehindert und in erschreckendem Ausmaß weitergegangen sei. In der für das Weltklima wichtigen Region seien 11 088 Quadratkilometer Dschungel abgeholzt worden, teilte die für die Überwachung des Regenwaldes
zuständige Behörde mit. Das entsprach der Größe der Insel Jamaika oder rund 4340 Fußballfeldern pro Tag oder drei Fußballfeldern pro Minute. Die abgeholzte Fläche war die größte seit 2008. Eine weitere erschreckende Zahl: Die Urwaldvernichtung zwischen August 2019 und Juli 2020 war noch einmal 9,5 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum, als bereits ein Rekordwert verzeichnet worden war.
Wissenschaftler und Umweltexperten kritisieren, dass die Abholzung rasant zugenommen hat, seit Bolsonaro im Januar 2019 die Präsidentschaft Brasiliens übernommen hat. In der Region sind drei Millionen
Arten von Pflanzen und Tieren beheimatet. Außerdem leben eine Million Indigene im brasilianischen Amazonas-Teil. Alle sind sie von Vernichtung oder Vertreibung bedroht. Zwar liegen 60 Prozent des Tropenwaldes auf brasilianischem Gebiet, aber der Amazonas hat neun Anrainerstaaten. Er ist also schon von daher mitnichten eine brasilianisch-nationale Angelegenheit.
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace betont, dass die Politik der ultrarechten Regierung in Brasilia dazu geführt hat, dass dreimal mehr Regenwald vernichtet wird, als es per Gesetz für 2020 zulässig festgeschrieben wurde. „Die Entwicklungsvision
der Bolsonaro-Regierung für das Amazonasgebiet führt zurück in die Vergangenheit“, unterstreicht Cristiane Mazzetti von Greenpeace. „Es handelt sich um eine Vision, die nicht den Anstrengungen gerecht wird, die zur Bewältigung der Klimakrise erforderlich sind.“
Der brasilianische Umweltexperte Carlos Rittl, der auch für das Potsdamer „Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung“(IASS) arbeitet, bezeichnete die jüngsten Zahlen als „peinlich, beleidigend und schockierend“. Diese Vernichtung sei vor allem deshalb möglich, weil diejenigen, die dafür verantwortlich sind, keine Strafe fürchten müssten. Unter Bolsonaro sei Brasilien zum „vielleicht größten Feind des globalen Umweltschutzes und zum PariaStaat“geworden, sagt Rittl.
Seit Bolsonaro Anfang 2019 sein Amt angetreten hat, werden die indigenen Gemeinden von Viehzüchtern, Holzfällern und Goldsuchern, von Hasardeuren, rücksichtslosen Unternehmern und kriminellen Banden zunehmend an den Rand gedrängt. Denn der Präsident hat das Amazonasgebiet und die „Terras Indígenas", die gesetzlich geschützten Gebiete für die Ureinwohner, zur Ausbeutung freigegeben. Und die Eindringlinge wissen, sie können die Gesetze brechen, ohne dafür belangt zu werden. Dabei hatte die Regierung aufgrund des politischen Drucks im Frühsommer Tausende Soldaten in die Amazonas-Region entsandt, um die Entwaldung zu stoppen. Aber ein Ergebnis ist nicht zu erkennen. Abholzung und Brandrodung gehen ungehindert weiter.
Bolsonaro fördert die Rodung des Regenwaldes vor allem deshalb, um die gewonnenen Gebiete Viehzüchtern und Sojabauern zur Verfügung stellen zu können. Soja gehört zu den brasilianischen Exportschlagern. Auch europäische Staaten nehmen es ab.
Wegen der dramatischen Abholzung stoppte das EU-Parlament im Oktober jedoch vorerst das geplante Freihandels-Abkommen zwischen Brüssel und dem Mercosur (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay). Neben Frankreichs Präsident Macron hatte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel deutlich gemacht, dass das Abkommen in der aktuellen Situation nicht zu ratifizieren sei.
Der wichtige Kipppunkt (Tipping Point) des Amazonas ist nicht mehr fern, da bereits vergangenes Jahr 17 Prozent verloren waren und eine ähnlich große Fläche als geschädigt galt. In der Folge könnten große Teile des Regenwaldes zu einer offenen Savanne mit Gräsern und einigen Bäumen mutieren. Den pessimistischen Prognosen einiger Klimamodelle zufolge könnte der Wald im Laufe dieses Jahrhunderts sogar komplett verschwinden. Mit fatalen Folgen für das Weltklima. Der Amazonas gehört daher der ganzen Welt und nicht bloß einem Ultrarechten auf einem Präsidentensessel.