Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Sie wollte einfach eine gute Mutter sein
AUGSBURG - Corinnas Nachbarin hat geweint, als sie ihr die Sprachnachricht geschickt hat. Denn die Nachricht sollte extreme Folgen für Corinna und ihre beiden Töchter haben. Sie sagte, dass sie es dieses Mal nicht schaffe, die ganze Woche auf die beiden Kinder aufzupassen. Corinna, 33 Jahre alt, schlank, lange dunkle Haare, brauchte eine neue Lösung. Die ältere Tochter, damals 13, eine Zeit lang alleine in dem Haus im Augsburger Norden zu lassen, das wäre noch gegangen. Aber die Kleine war fünf.
Das war im März. Fast jeden Tag wurden neue Maßnahmen gegen das Coronavirus verkündet. Die Schule war geschlossen. Der Kindergarten auch. Und Corinna, die nur mit ihrem Vornamen genannt werden möchte, arbeitete als Verkäuferin. Ihr Mann, der inzwischen wieder bei ihr lebt, war nicht da – dahinter steht eine komplizierte Situation, die das Paar privat halten will. Corinnas Vater lag im Frühjahr im Krankenhaus – nicht wegen Corona, wegen einer schweren Grippe. Zu Oma und Opa, zur Risikogruppe, konnten die Kinder also nicht.
Eigentlich hatte Corinna ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef, das dachte sie zumindest. „Bis ich ihm gesagt habe: Ich habe niemanden, der auf die Kinder aufpasst.“Am Telefon war das. Sein Vorschlag sei gewesen, die jüngere Tochter mitzubringen. Die könne sich doch im Büro hinter dem Laden selbst beschäftigen. „Das kann man von einer Fünfjährigen nicht erwarten“, sagte Corinna damals und sagt sie auch jetzt.
Das Gespräch wurde hitziger, lauter, unfreundlicher. „Ich habe ihm dann einen schönen Tag gewünscht und aufgelegt“, sagt Corinna. Sie war ihren Job los. Es war, als sei ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. „Ich hätte das Haus am liebsten verbarrikadiert“, erzählt sie.
Sie stellte das Handy ab, steckte das Telefon aus. Nur mit ihrer Mutter habe sie telefoniert. Sie sei emotional so aufgewühlt gewesen, dass sie sie angebrüllt habe. „Man wird nicht mehr gebraucht. Man ist ersetzbar.“Das sei das Schlimmste gewesen. Zwar sei ihr eigentlich schon zuvor klar gewesen, dass sie ersetzbar ist. „Aber so schnell?“
Die Kinderbetreuung liegt in Deutschland nach wie vor deutlich häufiger in den Händen der Mütter als in denen der Väter. Deshalb, so beschreibt die Mannheimer Ökonomin Michèle Tertilt in ihrer Studie zu den Auswirkungen der Krise, waren es vor allem Frauen, die besonders zu Beginn der Pandemie Probleme hatten, ihrer regulären Arbeit nachzugehen. Die Folge: „Sie sind weniger flexibel und müssen ihre Arbeitszeiten den Betreuungszeiten zu Hause häufig anpassen.“
Anja Weusthoff, Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrates, sind solche Fälle nicht massenhaft bekannt. Ihre Kolleginnen hätten bereits vor einiger Zeit analysiert, ob Frauen in der Krise häufiger von Jobverlusten betroffen seien. „Das können wir anhand der Zahlen bisher nicht nachweisen.“
Die Studien, die es zu diesem Thema gibt, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung haben die Wissenschaftlerinnen Anna Hammerschmid, Julia Schmieder und Katharina Wrohlich ausgewertet, welche Branchen in der Krise besonders häufig Jobs abbauen oder ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken. Das Ergebnis: Insbesondere das Gastgewerbe leidet. Dort sind überdurchschnittlich viele Frauen angestellt.
Holger Schäfer und Jörg Schmidt fanden hingegen für das Institut der Deutschen Wirtschaft heraus: „Frauen sind per saldo bislang nicht
Holger Schäfer und Jörg Schmidt vom Institut der Deutschen Wirtschaft häufiger arbeitslos geworden oder haben seltener eine Beschäftigung aufgenommen als Männer.“Sie widersprechen in ihrer Untersuchung der These, dass Berufe, in denen überdurchschnittlich viele Frauen arbeiten, besonders stark leiden – denn auch die überwiegend männliche Industrie sei stark gebeutelt. Zwar sei im Vergleich zu früheren Krisen zu beobachten, dass Frauen nun stärker betroffen sind als damals, doch das liege vor allem daran, dass frühere Krisen vorrangig Männer den Job kosteten – die Finanzkrise etwa.
Frauen und Männer seien in der Corona-Krise gleichermaßen von Jobverlusten betroffen. Sie schreiben aber auch: „Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Befunde Bestand haben werden, wenn sich im Laufe der Krise die Arbeitslosigkeit weiter erhöht.“
Konkrete Zahlen gibt es von der Bundesagentur für Arbeit. Ein Blick auf deren Statistik zeigt ebenfalls, dass seit März in etwa gleich viele Frauen wie Männer ihren Job verloren haben. Im November etwa waren 121 366 Frauen und 149 316 Männer im Freistaat arbeitslos gemeldet. Bei beiden Geschlechtern hat sich die Situation seit August leicht verbessert. Einen leichten Rückgang der Arbeitslosenzahlen gab es auch im Nachbarbundesland: In Baden-Württemberg waren im vergangenen November insgesamt 117 390 Frauen und 149 495 Männer arbeitslos gemeldet.
In dieser Statistik tauchen allerdings nur diejenigen auf, die als arbeitslos registriert sind – das kann zu Unschärfen führen. Wie Weusthoff, die auch Bundesfrauensekretärin des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist, sagt: „Zwei Drittel aller Beschäftigten im Minijob sind Frauen.“
Hier gibt es ganz verschiedene Hintergründe – etwa Frauen, die neben einer Tätigkeit als Hausfrau noch etwas hinzuverdienen. Wie viele von den geringfügig Beschäftigten nach einem Jobverlust darauf verzichten, sich arbeitslos zu melden, ist nicht klar.
Unabhängig davon seien Frauen in einiger Hinsicht von den Härten der Corona-Krise sehr wohl besonders betroffen, erklärt Weusthoff. Denn wenn sie ihren Job verlieren, greifen oft Mechanismen, die Frauen schlechterstellen. So sind die Sozialleistungen abhängig vom letzten Nettogehalt. Im unter Ehepartnern oft gewählten Modell, in dem die geringer verdienende Frau in Steuerklasse 5 eingruppiert ist und demnach überproportional viele Steuern auf ihr Einkommen zahlt, bedeutet das, dass auch das Arbeitslosengeld und das Kurzarbeitsgeld gering ausfallen. Zwei zentrale Forderungen, die der Frauenrat auch in der Corona-Krise wiederholt, sind deshalb die Abschaffung des Ehegattensplittings und die Überführung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen.
Die zweifache Mutter Corinna hat im Frühjahr nicht sofort angefangen, nach einem neuen Job zu suchen. Ihr Problem bestand ja weiterhin: Wohin mit den Kindern, während sie arbeitet? Stattdessen verbrachte sie die Zeit zu Hause. Sie erzählt, wie sie in ihre neue Rolle hineinwuchs. „Ich war Lehrerin. Ich war Kindergärtnerin. Und ich war plötzlich Hausfrau.
Das war extrem ungewohnt für mich. Ich habe eigentlich immer gearbeitet.“
Die Kleine, die habe das noch nicht verstanden. Corinna wollte das auch gar nicht. Kinder sollten Kinder sein dürfen, so sieht sie das. Über solche „Erwachsenendinge“sollten sie sich keine Gedanken machen müssen. Die Große half. Sie ging zum Supermarkt oder passte, während Corinna einkaufen ging, auf ihre Schwester auf. „Sie hat gesagt: Wenn Geld fehlt, kannst du an mein Konto drangehen“, sagt Corinna.
Das habe sie nicht gemacht, dafür sei das Geld nicht da.
Sie lebe ohnehin genügsam, sagt die Augsburgerin. Ihr Hobby sei das erste gewesen, an dem sie gespart habe. Corinna hat ein Pferd. Das habe sie jemand anderem zur Verfügung gestellt, der in der schwierigen Zeit die Kosten für den Hengst übernimmt. „Das trifft mich schon hart. Weil er für mich einfach zur Familie gehört.“
Als dann die Waschmaschine kaputtging – „Wenn’s kommt, dann kommt’s ganz dicke“– habe sie glücklicherweise eine gute gebrauchte Maschine für 50 Euro bekommen. Es habe schon ein Batzen Geld gefehlt. Schlimm sei das immer dann gewesen, wenn die Kinder einen Wunsch hatten, der einfach nicht drin gewesen sei. Etwas Besonderes zu essen etwa. Am meisten aber habe sie die Ungewissheit belastet.
Wenn Corinna erzählt, wirkt sie ruhig, entspannt, gelöst. Sie sagt selbst von sich, dass die schwierige Situation bei ihr zu positiven Veränderungen geführt habe. „Ich habe mich immer abgehetzt. Damit ich pünktlich in der Arbeit bin. Damit ich es allen recht machen kann“, erinnert sie sich. Jetzt, wenn sie in ihrem Garten steht und von den Buddha-Statuen in den Blumentöpfen zur Schaukel ihrer Kinder blickt, sagt sie: „Ich bin ruhiger geworden.“Die Schuld an ihrer Situation gebe sie niemandem. „Dass ich zwei Kinder habe, das ist ja meine Sache.“Job und Kinder, eigentlich gehe das schon. „Man muss gut strukturiert sein.“
Inzwischen hat sie wieder einen Job in Aussicht. Seit ihr Mann zurück ist, können sie sich die Betreuung auch wieder teilen. „Das wird auf jeden Fall wieder“, sagt sie. In den Verkauf will sie nicht mehr. Sie hat zwei Ausbildungen, als Kindergärtnerin und als Kauffrau für Büromanagement. Jetzt will sie wieder in einem Büro arbeiten.
Corinna kann der Situation auch etwas Positives abgewinnen, denn dieses Verhalten gehört der Vergangenheit an.
„Frauen sind per saldo bislang nicht häufiger arbeitslos geworden oder haben seltener eine Beschäftigung aufgenommen als Männer.“
„Ich habe mich immer abgehetzt. Damit ich pünktlich in der Arbeit bin. Damit ich es allen recht machen kann.“